Lesereise Südengland - Tea Time vor Land’s End
Reihenhäusern auf den Hügeln um den alten Viadukt der Eisenbahn noch da, verschwunden sind nur häufig die Bewohner: Ungezählt hängt an den Erkerfenstern die Parole rot und weiß: »For Sale«. Doch seit sich die A 27 als Stadtumgehung in die grünen Kreidehügel eingeschnitten hat, muss da niemand länger durch.
So ist die Stadt denn heute mehr denn je, was sie schon immer war: Londons Lunge – oder einfacher »London-on-Sea«. Bistros, Boutiquen und Designerläden hier wie dort, die großen Warenhäuser sind die gleichen wie an Londons Oxford Street, die roten Busse ebenso, und auch der trouble mit den Drogen ist derselbe, wenn er an der Schmugglerküste nicht noch größer ist.
Als Denkmal hätte Maggie Thatcher Brighton allerdings zu teilen mit dem, der »Everybody’s Town« den Briten einmal an ihr Herz gelegt und den ein Kritiker trotz allem doch wie folgt beschrieben hat: »Ein Libertin, der bis über beide Ohren in Schuld und Schande verstrickt ist, ein Mann, dem familiäre Verantwortung ein Gräuel ist, ein Kumpan der Demimonde, ein Mann, der über ein halbes Jahrhundert gelebt hat, ohne seinem Volk auch nur ein einziges Mal Anlass zur Dankbarkeit gegeben zu haben, ein Mann, der keinen einzigen Grund hat, den Respekt der Nachwelt einklagen zu wollen.«
Gemeint war immerhin ein König, George IV., als Thronfolger und Prinzregent ein fetter Prasser und flagranter Schuldenmacher, der erst mit siebenundfünfzig Jahren den Thron des Vaters wirklich übernahm. Nicht auszumalen, nebenbei, was aus »Prinny«, wie ihn seine Freunde im Milieu stets nannten, wohl geworden wäre, wenn es damals schon die Sun und überhaupt die ganze yellow press gegeben hätte, die sich heute mit Charles, Camilla oder Fergie zu begnügen hat.
Und doch: Im Teesalon des Royal Pavilion, jener unvergleichlichen baulichen Bizarrerie im Herzen der Stadt, hängt die Wiedergutmachung als allegorisches Gemälde an der Wand: Ein wohlgenährter Herr mit Römerkopf, Flügeln auf dem Rücken und Hosenbandorden am Po, beugt sich hinab zu einer hingestreckten bloßen Schönen, darunter klein der Hinweis: »Allegory. H. R. H. The Prince Regent awakening the Spirit of Brighton.« – Das ist, wenn auch nicht ernst gemeint, doch eine köstlich-königliche Pointe: Der Prinz als Putte, der den Geist von Brighton aus dem Schlummer holt. Es war der letzte Spaß des Engländers Rex Whistler, sein letztes Bild. Er fiel bei der Landung in der Normandie im Juni 1944.
Der Prinz of Wales war bald nach seinem einundzwanzigsten Geburtstag, 1783, zum ersten Mal hierhergekommen. Da hatte Brighton auch schon einen Namen, wenn auch einen anderen: Brighthelmstone hieß das Fischernest, wurde auch mit diesem Namenswort als »Brighton« ausgesprochen und stand als Seebad schon dreißig Jahre in gutem Ruf. 1750 hatte Richard Russell, ein Doktor aus dem nahen Lewes, ein Loblied auf das segensreiche Meerwasser geschrieben, anfangs auf Latein, für die Kollegen. Wenig später folgte eine populäre Übersetzung (»Dissertation Concerning the Use of Sea Water in Diseases of the Glands«), und bald darauf zog Russell seiner eigenen Empfehlung hinterher, um an der See die Früchte seiner Arbeit selbst zu ernten. Seit 1755 füllte man »Brighthelmstone Water« auch in Flaschen und verkaufte es nach London.
Brighton wurde Englands erster großer Badeort. Das unvertraute Schwimmen überließ man lieber noch den Fischen, doch in fahrbaren bathing machines gab man sich im Flachen bald der Kunst, Erfahrung und Verschwiegenheit des bathers oder dippers hin: zum Besten der Gesundheit – und alles in »a proper distance from the shore«, wie ein Reiseführer von 1794 nebenbei bemerkt.
Das freilich tat man auch in Weymouth, Margate oder Worthing. Zu Brighton wurde Brighthelmstone erst durch seinen Prinzen. Der sah sich schon bei seinem zweiten Aufenthalt im Juli 1784 nach einer Bleibe um und wohnte bald im Marlborough House »on the steyne«, dem Dorfanger von einst, der noch heute als »Old Steine« das quirlige Zentrum der Stadt ist.
1784 war er noch von London im Galopp hierhergeritten – und gleich darauf zurück: beides in zehn Stunden. Gehorsam überlieferte die Presse seine Eskapaden: »On Monday, June 27, His Royal Highness amused himself on the Steyne for some time …« Ihm war an diesem Tag nach Taubenjagd, so schreibt die Zeitung weiter, »but with what result we have not heard«. Sicher wusste die Presse nur, dass His Royal Highness eine Reihe Schornsteine am
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