Lesereise Südengland - Tea Time vor Land’s End
lange mit dem Ruf des hässlichsten behaftet, der roten Ziegelsteine wegen: Sein Architekt hieß Alfred Waterhouse, so taufte man ihn kurz entschlossen um der Rache und des Reimes willen »Slaughterhouse«. Daneben gleich das Grand von 1864, wo sich die Diener immer noch im Gehrock und Zylinder um die Fahrzeuge der Gäste kümmern. 1984 richtete die IRA bei einer Konferenz der Tories hier mit einem Bombenattentat ein Blutbad an. Heute strahlt das Grand in neuem Glanz, und der Süden ist true blue wie zu Maggie Thatchers bester Zeit.
Und da sind zuletzt die Piers, auch sie zwei Wahrzeichen der Stadt, die mehr als diese beiden hat, und beide miteinander wohl auch Brightons Sinnbild: Der einstmals elegante West Pier aus dem Jahre 1866, nah am Grand gelegen und für die feineren Vergnügungen bestimmt, ist seit 1975 ruinös und jedem Publikum verschlossen. Dann schlug der Sturm von 1987 das Wrack auch noch in Stücke, und so steht es halb verfallen da, eingehüllt in Stacheldraht und Rost, und warnt mit »Danger!«-Schildern vor sich selber: Alles bloß Vergangenheit auf Stelzen, die auch mit genügend Geld nicht noch einmal in Zukunft zu verwandeln wäre.
Denn die Zukunft sähe wohl so aus wie auf dem Palace Pier die Gegenwart. Als der Chain Pier 1896, ebenfalls im Sturm, zertrümmert wurde, wuchs nebenan schon Brightons dritter Pier. Ein Hauch von billigem Vergnügen und Erfolg gehört zu ihm seit 1899: »Welcome to the World famous Palace Pier«, heißt es über dem Portal: »Admission free«. Drinnen auch am Mittag Dämmerlicht und Automatenlärm, Geschiebe zwischen Monitoren mit Fußball, slot machines und Wechselautomaten. Hier ist Soho-on-Sea, das Reich der »Pinball Wizards« aus dem Song von The Who von 1969: »Ever since I was a young boy/ I played the silver ball,/ from Soho down to Brighton/ I must have played them all …«. Doch typischer noch als die Flipper sind die schillernden Schneewittchensärge, in denen breite Schieber Berge von Zehnpennystücken über eine Kante drücken, dem entgegen, der sie füttert. Alles, was jetzt in den Silberschacht hinunterfiele, käme an den glücklichen Gewinner, aber meistens schiebt es sich nur ineinander, durcheinander, aufeinander, türmt sich hoch und lockt aufs neue.
Dem West Pier hatte Graham Greene noch 1938 ein literarisches Denkmal gesetzt: »Brighton Rock« hieß sein Roman, »Am Abgrund des Lebens« auf Deutsch. Da hatten Ort und Titel gleichermaßen allegorische Bedeutung, denn »Brighton Rock« meint eine steile Kreideklippe vor der Stadt wie jene Sorte dicker, billigbunter Zuckerstangen, die an jedem Kiosk feilgeboten werden: Verführung und Gefahr in einem – wie der Pier. Und ist denn nicht der Palace Pier mit seinem schrillen Angebot ein Sinnbild für die Thatcherzeit: Der Traum vom schnellen Geld auf unsicherem Grund?
Auf den Walbuckeln grasen die Schafe
Sussex’ Golden Triangle
Fünfundachtzig Leuchttürme stehen rings an den Küsten von England und Wales. Alle sind sie malerisch postiert, gut auszumachen, prächtig anzusehen. Einer kann da nur der schönste sein, und das ist dieser hier, vierundvierzig Meter rot und weiß im Blau vor Beachy Head, der malerischsten Kreideklippe an der ganzen Küste Englands. Das Kliff trägt seinen Ruhm schon selbstbewusst im Namen: Nichts von beach in Beachy Head; das Wort kommt aus der Sprache der französischen Normannen und meint beau chef – das schöne Haupt, die schöne Höhe.
Wir haben Eastbourne hinter uns gelassen und sind vom Pier der Uferpromenade weit gefolgt, bis alle Straßen resignieren vor den grün bedeckten Kreidehügeln der South Downs und die letzte scharf nach rechts knickt und sich irgendwo im Weiß verkrümelt. Hier bringt der Wiesenpfad uns rasch hinauf, wo schon der Wind auf uns gewartet hat. Nur Augenblicke später liegt die Stadt uns hier zu Füßen, schimmernd weiß und blau, in der Betriebsamkeit des Sonntagmorgens. Fern am Band Stand dauert das Konzert noch an: Noch immer trägt der Wind uns von der Grand Parade die Klänge irgendeiner Sergeant-Pepper-bunten Militärkapelle zuverlässig hinterher bis auf die Höhe, fast zwei Meilen weiter: »My Fair Lady«, auch schon mehr als »twenty years ago today«.
Vom Wasser wehen laute Sprachenfetzen bis nach oben auf die Klippe: Die Kommentare der Besucher zweier Ausflugsboote, unterwegs zum schönsten Küstenabschnitt zwischen Dover und Land’s End, unterwegs zu uns. Sie drehen bei, und auch für uns hier oben sind es nur noch ein
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