Lesereise Südengland - Tea Time vor Land’s End
Traum von tausendundeiner Nacht abermals zum Leben zu erwecken.
Drinnen schreiben wir den 15. Januar 1817: So steht es auf der Speisekarte in der Küche. Schweinehälften hängen an der Wand, Geflügel steckt am Spieß, Fasane, Gänse, Schwäne liegen da, bereit, gerupft zu werden, auch die Pfannen, Töpfe und Tiegel für die sechsunddreißig Vorspeisen stehen griffbereit. Nebenan im Bankettsaal ist schon der Tisch gedeckt, hier ragt eine üppige Bananenstaude, halb nur gemalt und halb aus Kupfer getrieben, hinauf in die Kuppel des gläsernen Himmels; ein Drache, der die Lüster und die Blütenampeln hält, Schnitzereien, Vorhänge und Wandverkleidungen und zweiundzwanzigtausend glitzernde Kristalle komplettieren diese Dschungelfantasie. Hier ist Natur zu Farbe und zu Eisenguss erstarrt – vom Krokodilsfuß im Salon bis hin zum Blätterwald im Korridor und von der Palme bis zum Bambus der Geländer. Das ganze morgenländische Palais liegt im Dornröschenschlaf, sogar die Kerzenflammen scheinen wie im Schlummer: Sie leuchten, doch sie flackern nicht. Ein profitabler Hang zur Chinoiserie beherrscht sogar den Souvenirshop ganz am Ende der Visite: Die Zwiebeltürme sind jetzt Pfeffermühlen; und häufig trägt der königliche Kitsch den Nachweis »Made in Hongkong«.
Das Jahr von Georges Abschied war das Wendejahr für Brighton. Als sich der gönnerhafte Genius der Stadt aus dem gewachsenen Gewühl zurückzog, 1827, rückten seine Untertanen nach und richteten sich trefflich ein. 1827 schrieb Fürst Pückler auf der Reise lobend seiner Frau, dass die Stadt »mit ihren breiten Straßen den neuesten Quartieren Londons ähnlich« sei. John Constable, der Maler, vermisste um dieselbe Zeit schon Brightons eigentümliche Motive: »The beach is only Piccadilly by the seaside.« Und sah zuletzt, so höhnte ein Satiriker, nicht auch der Königliche Pavillon so aus, als hätte die berühmte Kuppel von St. Paul’s am Meer bloß einen Haufen Junge geheckt?
Im September 1841 kam die Eisenbahn von London, Brighton wurde vollends, was es schon im Vers von 1813 war, »The Queen of Watering Places«, auf einem Tagesausflug zu erreichen, am Wochenende sowieso: Der schwüle Dunst der vielzitierten dirty weekends gab dem frischen Küstenklima seinen unverwechselbaren Beigeschmack. Und ein Satz aus Thackerays Roman »Die Newcomes« verlieh dem allen um dieselbe Zeit sein Motto: »Kind, cheerful, merry Dr. Brighton«.
Man amüsierte sich auf seinen Piers, von denen nur der älteste, der Chain Pier von 1823, tatsächlich eine Schiffsanlegestelle war; man flanierte wie Fürst Pückler meilenweit am Meer entlang, besuchte das Aquarium von 1872 oder reiste zitternd mit der unerhörten Eisenbahn des Magnus Volk von 1883 längs des Strandes, nach 1896 gar bis an das hübsche Dörfchen Rottingdean heran, das letzte Stück auf über sieben Meter hohen Stelzen durch das Wasser: »Daddy Long Legs« hieß die Linie, sie wurde schon vier Jahre später wieder aufgegeben. Die Gunst des Zufalls hatte Mister Volk indes mit Cleverness genutzt: Seine Bahn trug vorneweg die königlichen Initialen, als führe sie tatsächlich »by Appointment to Her Majesty the Queen«. Indes ein Schuft, wer Schlechtes dabei denkt: Gemeint war nicht »Victoria Regina«, sondern bloß »Volk’s Railway«.
Beharrlich ließ Victoria die Stadt ihr Leben lang links liegen, und doch ist Brighton heute auf den ersten Blick eine viktorianische Erscheinung. 1901, beim Tod der Königin, zählte es schon hundertzwanzigtausend Einwohner. Der Schriftsteller Sir Osbert Sitwell nannte Brighton gar das »Opfer einer viktorianischen Elephantiasis«.
Heute ist hier alles beieinander, postmodern: The Lanes, ein quirliges Gewirr von Gassen, aus dem die Stadt erwachsen ist, wirkt wie ein raffiniert getarntes Shoppingcenter für alles, was das Leben schöner macht; was man für den Alltag eher nötig hat, das gibt es an der Western Road bei Boots und Marks Spencer und McDonald’s. Die terraces und crescents aus der Gründerzeit des Regency liegen in der Stadt verstreut. Und fern im Osten schließt sich die Marina an, Europas größter Hafen, der von Menschenhand angelegt wurde, mit Raum für zweitausend Jachten, ganz neu, ganz teuer und doch noch nicht ganz integriert ins Bild der Stadt. Denn das zeigt lieber längs der Uferpromenade die vielen lieb gewonnenen und wohlverwahrten Victoriana. Da ist das große Metropole Hotel von 1889, noch immer eins der feinsten Häuser in der Stadt, doch
Weitere Kostenlose Bücher