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Lesereise Südengland - Tea Time vor Land’s End

Lesereise Südengland - Tea Time vor Land’s End

Titel: Lesereise Südengland - Tea Time vor Land’s End Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Bengel
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sagt er, sehe das aus im Kino. In Wahrheit brauche man vier ganze Kerle, die mit beiden Händen in das Ruder griffen, um ein solches Schiff zu steuern. Er leitet uns durch enge Magazine und Geschützdecks, über steile Stufen (»Mind your head!«) durch das Schiff, von den glanzvollen, lichten Kabinen im Heck bis zu den Unterkünften für den Großteil der Besatzung, die sich mit dem Vieh die Enge zwischen den Kanonen teilen musste, fünfhundertfünfzig Mann von achthundertfünfzig Mann Besatzung insgesamt. Das schimmernde Glänzen der christlichen Seefahrt setzt Mister Smith bei seinen Hörern als bekannt voraus. Er zieht es vor, uns mit der wenig christlichen Grundierung solcher Seestücke bekannt zu machen: Das sind die Plätze für die powder monkeys , wie man die kleinen Jungen nannte, die affengleich und wieselflink das Pulver für die Vorderlader schleppen mussten! Und dies hier sind die Eisen für die Füße, wenn es einem an Begeisterung gebrach! Bis zu hundert Tage mochten die Gepressten eingeschlossen sitzen, mit nichts als Buße oder ihrer Handarbeit beschäftigt: Sie mussten Peitschen flechten, die sie selbst zu spüren bekamen. Auf Deck zu spucken, galt als Majestätsbeleidigung und wurde mit Prügeln bestraft. Fürs Wohlverhalten oder wenigstens Die-Klappe-Halten gab es Alkohol: pro Tag und Mann eine Gallone Bier, auf Wunsch stattdessen zwei Pint Wein oder ein halbes mit Rum. Erst 1970, am 30. Juli, dem Black Tot Day , kühn mit »Schlückchenstreiktag« übersetzt, wurde die Navy trocken und das wohlvertraute Quentchen aus Jamaica ein für alle Mal gestrichen. Die Mannschaften mit Zwang zu pressen hatte man schon früher aufgegeben.
    Mit zwölf war Horatio Nelson als midshipman zur See gekommen, mit einundzwanzig war er Kapitän, mit neununddreißig Admiral, zum Mythos wurde er mit seinem Sieg vor Kopenhagen, 1801. Damit öffnete sich England den Zugang zur Ostsee, über die das Holz zu Englands Werften kam. Denn die Eichenwälder auf der Insel waren längst schon mehr als dezimiert. Weder seine schwächliche Gesundheit noch seine lächerliche Eitelkeit, nicht seine unliebsamen außerehelichen Eskapaden und auch nicht die Ménage-à-trois mit Emma Hamilton und ihrem Gatten konnten Nelsons Aufstieg in den Himmel der Geschichte hemmen. Das tat stattdessen um die späte Mittagszeit des 21. Oktober ein feindliches Geschoss. Die Kugel, zur Reliquie geworden, schmückt heute den Besitz der Queen. Um zwölf Uhr dreißig war die »Victory« in die gegnerische Schlachtenlinie eingefallen wie der Fuchs in einen Hühnerhaufen. Mit Breitseiten aus hundertvier Kanonen und einer unerreichten Feuerkraft im Neunzig-Sekunden-Takt bei drei bis fünf Minuten auf der Gegenseite schoss sie ihre Feinde schwindlig. Da traf, vom Besanmast der Redoutable aus weniger als zwanzig Metern abgefeuert, eine einzelne Musketenkugel Nelsons linke Schulter, zerriss die Lunge und zerschlug die Wirbelsäule: eben hier, wo wir jetzt stehen, auf dem Quarterdeck. Denn natürlich hat sich Mister Smith für diese Klimax vor dem rührenden Finale den rechten Schauplatz ausgesucht. Sogar die alten, echten Planken sind noch da: Man hat sie drei Decks tiefer eingezogen, im Schiffslazarett, das jetzt eine Gedenk- und Weihestätte ist. Dort hängt der Tod des Helden, nach dem Leben gemalt, wie eine Kreuzabnahme an der Wand. Das Licht, das die Szene erhellt, geht wunderbarerweise von dem Sterbenden auf seinem Lager aus. Wer dabei war, hörte Nelsons letzte Worte, aber jeder hörte andere: auch das ein Beitrag zur Legendenbildung. Hieß der letzte Seufzer, an den Kapitän gerichtet, wirklich »Kiss me, Hardy«? Oder kam da nur ein Röcheln der Ergebung: »Kismet, Hardy«? Auch seiner Lady Hamilton soll Nelson einen Seufzer hinterlassen haben – und einen letzten für das Protokoll. Helden reden nicht vom Küssen, wenn sie sterben, Helden reden von der Pflicht: »Thank God, I’ve done my duty!«
    Nach der Katharsis das Satyrspiel: Auch diesen Kniff beherzigt unser Mister Smith und greift zum letzten Mal ganz tief in jene Kiste, in der die vaterländischsten von allen Anekdoten mit Seemannsgarn und ausgepichten Kuriosa ein für alle Mal verknotet sind: Wer pflichtgemäß auf See gestorben war, gehörte auch auf See bestattet. Für die Royal Navy galt das bis zur Themsemündung, und Nelson hat vielleicht gewusst, woher, dem Volksmund nach, das Örtchen Gravesend (»Grabesende«) an der Themse seinen Namen trug: Bis hierher wurden Tote über Bord

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