Lesereise Südengland - Tea Time vor Land’s End
malerischer Pracht. Wir fanden unser Ziel nicht gleich, in Stoke St. Gregory verloren wir den Weg, weil alle Straßen außer einer uns im Kreis herum und hoffnungslos zurück zu jener führten, die wir irrtümlich verlassen wollten. Links und rechts der Route war das Flache weglos, grün und licht bewachsen. Und so fanden wir zuletzt, wonach wir gar nicht suchten: die Weiden und die Korbmacher der Somerset Levels.
Aus Englands sechsundvierzig Grafschaften ragt Somerset für jedermann hervor: Die einen rühmen seine Äpfel oder doch zumindest seinen cider , die anderen die Tropfsteinhöhlen nahe Cheddar samt dem Käse dieses Namens, nach Daniel Defoe der beste Englands, wenn nicht gar der Welt; und unter Kunstliebhabern gilt der Baustil seiner Kirchtürme im schlanken Hochformat des perpendicular style als unerreicht: »Wir zögern nicht mit der Behauptung, dass es ihresgleichen in der ganzen Welt nicht gibt«, schreibt Lawrence E. Jones in seinem Standardwerk »The Beauty of English Churches«.
Der Ruhm der Weidenindustrie von Somerset dagegen läuft als eher kleine Münze um: Als Picknickkorb im Grünen vor dem Opernhaus von Glyndebourne, als Teppichklopfer auf dem Hinterhof, in der Erinnerung als Wäschekorb im Krankenhaus und gänzlich unbemerkt in London vor dem Buckingham Palace. Denn was trägt der königliche Posten der Brigade of Guards auf seinem Kopf? Schwarzes Bärenfell, zur Freude aller Fotografen. Und was darunter? Einen Unterbau aus Weiden. Korbgeflochtenes aus Stoke St. Gregory.
Längst waren uns die Weiden aufgefallen, zunächst die starken Stümpfe längs der Gräben, später erst die flachen Weidenfelder zwischen ihnen, die im Wind wie Ähren wogen. Zuletzt die Schilder an der Straße, die Körbe und Weiden und Auskunft versprachen.
Die Marschen der Somerset Levels sind ein flaches Schwemmland, das reichen, feuchten Boden über einer dünnen Lehmschicht bietet, selten mehr als zwanzig Fuß über dem Meeresspiegel. Noch zwanzig, fünfundzwanzig Meilen von der See entfernt, ist der River Tone, der Taunton, »Tone Town«, seinen Namen gibt, den wechselnden Gezeiten unterworfen. Bis ins 18. Jahrhundert verwandelte das Land sich jedes Jahr für Monate in ein System von Inseln und Lagunen. Die normannischen Berichterstatter von Wilhelm dem Eroberer setzten für die gefluteten Sümpfe Jahr für Jahr sechstausend Aale an, fette Beute zwischen Inseln, die noch heute »Eiland« heißen (»Isle«) – wie Godney, Athelney und Muchelney.
Nach dem Wort für Riedgras oder Segge heißt das weite Land auch Sedgemoor. Den Namen wiederum kennt jeder Engländer, der die Geschichte seines Landes kennt: Hier kämpften der illegitime Lieblingssohn Charles II., James Duke of Monmouth, und sein Oheim, der jüngere – und verteufelt katholische – Bruder des verstorbenen Königs, zwei Tage lang um die verwaiste Krone. Der legitime Erbe wurde Sieger und als James II. König für drei Jahre, ehe ihn die Whigs im Parlament vertrieben, der aufständische Herzog wurde im Tower geköpft. Doch immerhin, so ist es überliefert: Der Henker brauchte sieben Streiche für den Nacken. Das war 1685. Es war die letzte Schlacht auf englischem Boden. Und bis heute zeigt man in Westonzoyland die Scharten im Gestein der Kirche, an dem die rebellierenden Bauern ihre Mistgabeln und Sensen vor dem Kampf geschliffen haben sollen, als hätten sie nicht auch Musketen in der Schlacht geführt.
Ihre Nachfahren fanden hundert Jahre später Arbeit darin, das Land zu drainieren. Bis 1840 wurden die levels parzelliert und mit einem feinen Netz von Gräben überworfen, heute sind sie das größte Feuchtbiotop im Südwesten Großbritanniens und das wichtigste in England, von flachen Höhenrücken oft partienweise eingegrenzt und gegen manchen Regen und den rauen Wind geschützt, ein Paradies für Wasservögel und Amphibien, Insekten und niedere Säuger, seit 1987 ein regelrechtes Schutzgebiet von annähernd sechshundertfünfzig Quadratkilometern.
Seit sich das Meer vor Tausenden von Jahren zurückgezogen hatte und nur im Winter wiederkam, wuchsen hier Weiden. Als mit den Pumpen und Entwässerungssystemen das Land berechenbarer wurde, konnte man die Bäume und die Büsche wie Feldfrüchte kultivieren. Seither gibt es eine nennenswerte willow industry in Somerset, und industry bedeutet hier noch wirklich »Fleiß« wie im Lateinischen: industria. Seit 1819 besteht in Stoke St. Gregory der Weidenbaubetrieb Coate Son, und auch Nigel Hectors English
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