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Lesereise Südengland - Tea Time vor Land’s End

Lesereise Südengland - Tea Time vor Land’s End

Titel: Lesereise Südengland - Tea Time vor Land’s End Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Bengel
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niemals mehr an Englands Küste im Südwesten. Die Klippen haben grüne Buckel und an ihren Rändern einen Pelz von Heidekraut. Nur ein paar Meter hält sich hier die Bodenkrume, dann stürzt das Land in jähem Fall in den Atlantik. Am Rand der Klippe treffen wir auf eine einsame alte Dame mit einem Campingstuhl und einem weißen Block. Sie ist mit ihrem Aquarell nicht recht zufrieden: »Der Wind«, sagt sie, »er trocknet alles aus.« Doch immerhin: Die Felsenwände sind auf ihrem Blatt so rötlich grau wie vor uns die Natur. Und überdies sei Malen bloß ihr Hobby.
    Wir wandern auf dem dünnen Torf durch Stechginster und Heide; die Weißdornbäume stehen knorrig-krumm im Wind und tragen lange Bärte von den Schafen. Es geht hinunter in das eingekerbte Tal des Sherrycombe und abermals hinauf. Hier steht das Farnkraut trocken, dicht und hoch und hat im Innern ein System geheimer Gänge für die Lämmer, die in Panik fliehen, als wir näher kommen. Es ist, als würden sie die düstere Geschichte von dem Schafdieb kennen, der sich eben hier, am höchsten Punkt der Küste, am Seil die Beute um den Nacken schlang und sich auf diese Weise strangulierte – Gehenkter und Henker zugleich: Great Hangman heißt nach diesem Zwischenfall der Ort, so wird gesagt, dreihundertachtzehn Meter hoch, und an der höchsten Stelle noch von einem Haufen heller Steine überhöht. Hier werden wir vom Wind gepeitscht mit allem, was an uns nicht festgebunden ist. Der Weg zurück führt auf den Buckel Holdstone Down, noch einmal dreißig Meter höher. Das Grün wird weniger mit jedem Schritt, zuerst das Farnkraut, dann der raue Stechginster, am Ende ragen nur noch Wurzeln oder Steine aus dem Torf.
    Hoch auf dem Exmoor wollte Tarkas Autor sterben, ein Sonderling und Misanthrop mit einer ungeklärten Schwärmerei für Richard Wagner, T. E. Lawrence und Adolf Hitler, die nur aus einem Punkt heraus entstanden war: Aus dem, was er verachtete, die Zivilisation.
    So sind wir auch auf seiner Spur, als wir den Hügelzug der Chains besteigen und die Höhe, wo der Exe entspringt. Wir folgen einer Rinderspur im hohen Gras durch schmatzende Kissen von Binsen im Sumpf, zwischen denen schwarz und trügerisch das Wasser schillert. Chains Barrow ist ein rundes, flaches Hügelgrab im Moor, vierhundertsiebenundachtzig Meter hoch, die höchste Stelle rings umher. Nur weiß getupftes Wollgras bis zum Horizont. Hier wollte Williamson begraben sein nach einem Leben voller Kampf, einsam wie ein stolzer Hirsch, das Wappentier des Exmoors. Hier wollte er sich in die Flammen eines Scheiterhaufens werfen, um sein Ende selbst zu bestimmen. Ein Träumer, keine Frage. So hatte man ihn 1932 schon genannt: Der Mann, der Devon träumte. Er starb in einem Pflegeheim in London im Sommer 1977, während man am alten Schauplatz Canal Bridge nach seinem Drehbuch den Roman verfilmte, und er starb am 13. August, exakt dem Drehtag für die große Sterbeszene Tarkas. Begraben liegt er nun in Georgeham, wo sein Traum von Devon einmal angefangen hat.
    Eine Furt am Exe Head, flaches Wasser, ausgetreten von den zottig-grauen Rindern: Das ist der River Exe an seiner Quelle, ehe er sich aufmacht, um auf seinen achtundachtzig Kilometern fast alle Flüsse Exmoors an Exeter vorüber zum Kanal zu bringen, an die Englische Riviera, wo den Sommer über der Lavendel blüht. Hier oben gibt es nichts als Torf und Farn und Heide. Am Exe Head überwinden wir die Wasserscheide. Was fortan um uns gluckst und gurgelt, fließt schnurstracks in die Severn Sea. Dem Hoar Oak Water folgen wir durch seine Kerbe bis zum Hoar Oak Tree, einem unscheinbaren grauen Eremiten, eingezäunt wie schon in Tarkas Buch: »Caged from the teeth and horns of deer.« Dies war einmal ein Grenzsignal, einer von zwei Bäumen im gesamten Exmoor. Heute stehen unterhalb am Wasser saftig-grüne Buchen.
    Beim Rückweg auf dem Hügelkamm der Chains liegt uns das ganze Land zu Füßen, grünes Patchwork bis zum Wasser, über das ein zweites Flickenteppichbild aus Sonnenlicht und Schatten jagt, Great Hangman in der Ferne, dahinter als ein heller Strich die Küste von Wales. Das Gras des Vorjahrs knistert trocken zwischen frischem Grün, und immer wieder werfen sich die Lerchen vor uns in den Wind und rezitieren hoch am Himmel Shelley, »To a Skylark«.
    Nachts schlafen wir erholt in verborgenen Farmhäusern, deren Alter der ganze Stolz ihrer Besitzer ist: Fachwerkwände aus den Rippen ausgeschlachteter Segelschiffe, kleine Becken mit zwei

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