Lesereise Tschechien
in seine beiden Hälften: die tschechische und die russische. Die Hauptpost ist ein rötliches, mit Säulen und Balkönchen bestücktes Gebäude aus dem Jahr 1904, das im Inneren durch elegante Statuen verrät, wie wohlhabend diese Stadt vor hundert Jahren war. Steht man vor der Post, dann öffnet sich nach rechts eine Fußgängerzone, die zu den Kaufhäusern, dem Rathaus, den Imbissstuben und dem Busbahnhof führt. Der tschechische Teil. Zur linken Hand, wo das halbe Dutzend Pferdekutschen auf Touristen wartet, geleitet den Besucher das eingesargte Flüsschen Tepl talaufwärts zu den Restaurants und Hotels, den Sprudelquellen und mondänen Promenaden. Der russische Teil.
Es gibt Leute in Karlsbad, denen diese Beschreibung ihrer Stadt in hohem Maße missfallen würde. Jiři Klsák jedenfalls, der stellvertretende Bürgermeister, hat sich neulich an der Tepl durchaus geärgert, als er im Vorübergehen einen russischen Fremdenführer zu seiner Gefolgschaft sagen hörte: »Das ist die Hauptpost, und in dieser Richtung, das gehört uns.« Uns, den Russen.
In »dieser Richtung« liegt die Kurzone, versteht sich, der historische Kern, der Karlsbad schon vor mehr als dreihundert Jahren berühmt gemacht hat. Die dort entspringenden Mineralquellen sowie die dort erbauten Bäder und Herbergen lockten Kaiser und Könige, Dichter und Musiker, Europas Adel und Großbürgertum her. Früher waren es überwiegend Deutsche und Russen, heute sind es vor allem Russen und Bürger jener Staaten, die bis zur Wende 1989 ebenfalls zur kommunistischen Sowjetunion gehörten.
Dies prägt den Alltag. Man trifft die Gäste aus dem Osten an den Quellen, dezent gekleidet, die meisten eher wohlhabend. Es kommt auch vor, dass man als Kunde in Souvenir- und Juweliergeschäften oder in Cafés von Kellnern und Verkäufern vorauseilend auf Russisch angesprochen wird. Hinweise in kyrillischer Schrift stechen an den Schaufenstern von Reise- und Immobilienbüros ebenso hervor wie auf Transparenten, die den Verkauf von Appartements annoncieren. Ein Delikatessengeschäft ist nur noch kyrillisch ausgeschildert. Die Russen sind da, unübersehbar.
»Wir verstehen das als eine historische Gegebenheit«, sagt Jiři Klsák. »Damit muss die Stadt in gewisser Weise fertig werden.« Der Siebenundfünfzigjährige sitzt in dunkler Jacke an seinem schlichten Schreibtisch im Rathaus, Krawatte trägt er nicht. Der Bart ist ergraut, die langen Haare fallen auf den Kragen, und auch der wilde Klingelton des Handys verrät, dass Klsák nicht zu den Angepassten zählt. Er ist Archäologe und leitete jahrelang den Club für eine schöne Karlsbader Region. Seit November 2010 ist er nun einer der beiden Stellvertreter des Bürgermeisters.
Das neue Amt verdankt er einem politischen Erdbeben, das mit den Karlsbader Russen durchaus zu tun hat. Mit manchen jedenfalls. Die tschechische Provinzstadt, von der bayerischen Grenze nur eine halbe Autostunde entfernt, wurde acht Jahre lang von einer großen Koalition aus konservativen Bürgerdemokraten ( ODS ) und Sozialdemokraten ( CSSD ) regiert. Deren Aktivitäten haben der Mehrheit der Bürger aber so sehr missfallen, dass sie bei der Kommunalwahl im Oktober 2010 einen spektakulären Machtwechsel herbeiführte. Ans Ruder kam ein Bündnis aus drei Bürgerinitiativen und einer neuen konservativen Partei, der TOP 09 des Außenministers Karel Schwarzenberg. Gemeinsam rannten sie gegen die Politik des Laissez-faire der früheren Stadtregierung an.
Man warf ihr Konzeptionslosigkeit, Korruption und Spezlwirtschaft vor, weil sie wertvolle Immobilien aus städtischem Besitz unter Wert veräußert habe. Auf Protest stieß auch der Bau einer gigantischen Multifunktionsarena, von der vor allem der örtliche Eishockeyclub und sein Sponsor einen Nutzen haben. Die Verlosung des Bauauftrags für diese Halle wurde auf You Tube ins Netz gestellt und bald in ganz Tschechien zum Gespött, weil der Loszieher so lange im Eimer wühlte, dass keiner mehr an eine unparteiische Auswahl glaubte. Schließlich musste sich der abgewählte Magistrat auch vorhalten lassen, den Denkmalschutz und damit das historische Erbe der Stadt missachtet und allzu willig dem Druck der Investoren nachgegeben zu haben, die seit der Wende die hübschen Kästen aus der Kaiserzeit aufkauften und sanierten.
Es waren sehr oft russische, aber auch kasachische, ukrainische, turkmenische oder usbekische Investoren, angelockt vom Mythos Karlsbad, der im russischen Kosmos alt und stark
Weitere Kostenlose Bücher