Lesereise Tschechien
Räumen des mittelalterlichen Klarissenklosters am Franziskanerplatz, in denen die Archivalien verwahrt werden, vor Jahren diesen sensationellen Diebstahl verübt haben könnte.
Die stolze, alte Stadt Eger, von den Tschechen Cheb genannt, ist wie so viele andere stolze, alte Städte und Dörfer im Land zum Opfer von Ganoven und gierigen Kunstsammlern geworden. In den ungesicherten Verhältnissen der Wendejahre nach 1989 gingen sie im ganzen Land auf die Jagd nach wertvollen Gegenständen und machten allzu oft allzu leichte Beute. Aus dem Bezirksarchiv von Eger zum Beispiel verschwanden tausenddreizehn historische Briefe, die mit eindrucksvollen Siegeln versehen waren. Auch zahllose kleinere oder größere Kirchen wurden von Dieben heimgesucht, aus ihnen wurden Bilder, Statuen, Sakralgefäße und andere wertvolle Objekte gestohlen. Tschechien als eines der besonders reich mit kulturellem Erbe gesegneten europäischen Länder wird dadurch hart getroffen. Es hat deshalb auch besonderen Anlass, den Umgang mit seinen Schätzen zu überdenken.
Vor allem ist dies, wie Experten meinen, eine Frage des Bewusstseins und der Moral. In Eger beispielsweise spielte das Verhalten der Archivbediensteten eine entscheidende Rolle, denn ohne deren Hilfe wäre das Gaunerstück, das die Täter vor etwa zwanzig Jahren verübten, sicher nicht möglich gewesen. »Man muss ganz offen sagen, dass auch Angestellte des Archivs mitgemacht haben«, erklärt der Leiter der Einrichtung, Karel Halla.
Der sechsunddreißigjährige Historiker ist überzeugt, dass es den Dieben weniger auf die Briefe selber als vielmehr auf die prachtvollen Siegel ankam. Es waren ja illustre Absender, die an den Bürgermeister oder den Stadtrat der alten Reichsstadt Eger geschrieben hatten: Kaiser wie Karl IV. und Rudolf II., hochmögende Adlige wie Peter Wok von Rosenberg und der Heerführer Albrecht Wallenstein, auch die Königin Maria Theresia gehört dazu. Es geht in diesen Briefen um die Bestätigung von Rechten, um Anordnungen und Anfragen. Im Groben kennt man den Inhalt wenigstens aus Repertorien, Aktenverzeichnissen, die frühere Archivare angefertigt hatten.
Im Verlust dieser Texte besteht für Halla der eigentliche Schaden, weniger im Verlust der Siegel. Davon hat das Archiv noch Tausende, auch die wirklich wertvollen dreitausend Pergamenturkunden blieben unangetastet. Deshalb nehmen die Historiker und die Ermittler an, dass die Täter womöglich »auf Bestellung« irgendwelcher verschrobener Philatelisten gehandelt und aus den verschiedensten Kartons, in denen die Dokumente aufbewahrt werden, gezielt bestimmte Einzelstücke herausgefischt haben. Hundertdreizehn der tausenddreizehn Briefe sind in den vergangenen Jahren in Brünn, Wien und Bamberg auf Auktionen aufgetaucht, dadurch kam man dem Diebstahl überhaupt auf die Spur. Das exakte Ausmaß des Verlusts stand erst nach einer zehnjährigen internen Revision fest, während der der Zugang zu den Urkunden allen Außenstehenden verwehrt war. Dem Handelswert nach geht es um einen Schaden von mehreren Millionen Euro.
Noch weit höhere Summen stehen im Fall der Kirchendiebstähle in Rede. Niemand kann die Verluste exakt beziffern, denn vielfach herrscht gar kein genauer Überblick darüber, was alles noch aus alten Zeiten in welchem Dorfkapellchen verwahrt wurde und welchen Wert eine einzelne Schnitzerei oder eine einzelne Schale gehabt haben könnte. Im Königreich Böhmen war nach dem Dreißigjährigen Krieg, der für die Protestanten gleich im dritten Jahr bei der Schlacht am Weißen Berge eine grausame Niederlage brachte, mit großem Nachdruck die katholische Gegenreformation vorangetrieben worden. Unter anderem ging damit die Stiftung und üppige Ausstattung vieler Kirchen durch gnadenlos wohlmeinende katholische Adlige einher. Böhmen wurde eine Hauptlandschaft des europäischen Barock. Zudem war der deutschsprachige Bevölkerungsteil in seinen Siedlungsgebieten auch später auf ansehnliche Kultstätten bedacht.
Nach der Nazizeit, der Vertreibung der Sudetendeutschen und schließlich der Machtübernahme der Kommunisten im Jahre 1948 indes wurden alle Religionen unterdrückt, die Priester schikaniert und inhaftiert, die Kirchen geschlossen. Viele Baudenkmäler, nicht nur religiöse, sondern beispielsweise auch zahlreiche Burgen im Land, verfielen und verdämmerten, doch Diebstähle kamen nach Darstellung von Experten kaum vor. Erst als 1989 die Diktatur der Parteibonzen zusammenbrach, die Bürger neue
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