Lesereise Tschechien
der Aufgabe gewachsen fühlt. Heute Bürgermeister von Theresienstadt zu sein verlangt nämlich, eine einzigartige Barocksiedlung zur Genesung zu führen, die unter der Last ihrer Vergangenheit ganz krank geworden ist. »Das ist wirklich harte Arbeit und kostet Nerven«, sagt Růžena Čechová.
Aus ihren Amtsräumen im Obergeschoss des Rathauses fällt der Blick auf lang gestreckte Bauten mit renovierten Dächern, ein wertvolles historisches Ensemble. An der Wand hängt ein Luftbild der Stadt, das übersichtlich die sternförmige Festungsanlage und die darin befindlichen Gebäudekomplexe zeigt. »Da sind die verlassenen Kasernen«, sagt die Bürgermeisterin und zeigt auf eine Häuserreihe. Rechts daneben steht der alte Reitstall. Und oben die Artilleriekaserne, wo das neue Holocaust-Büro seinen Sitz haben soll.
Der Holocaust, der Völkermord an mehr als fünf Millionen europäischer Juden durch die Nazis, hat Theresienstadt in aller Welt bekannt gemacht. Ende 1941 zwang das Hitler-Regime alle Einwohner zum Auszug und wandelte die alte Garnisonsstadt, die leicht abzusperren und zu überwachen war, komplett in ein Sammellager um. Es diente zur Aufnahme von Juden aus jenem Teil der zerschlagenen Tschechoslowakei, den die Nazis zum »Protektorat Böhmen und Mähren« machten. Später wurden auch alte deutsche und österreichische Juden hergebracht. Im Ganzen waren bis 1945 rund hundertzweiundvierzigtausend Menschen in dem völlig überfüllten Städtchen interniert, siebenundachtzigtausend von ihnen wurden weiter nach Auschwitz und in andere Vernichtungslager gebracht und dort zumeist in Gaskammern ermordet. Mehr als dreiunddreißigtausend Männer, Frauen und Kinder kamen im Ghetto- KZ durch Hunger, Seuchen und Misshandlungen um.
An ihr Leben und Leiden erinnern heute mehrere Gedenkstätten und Museen, in der Stadt ebenso wie in der am Stadtrand gelegenen Kleinen Festung, einem Brückenkopf am Ufer der Eger. Dort hatte die Gestapo von 1940 bis 1945 rund dreiunddreißigtausend Tschechen gefangen gesetzt. Nach Kriegsende wurden dann bis 1948 auf dem Gelände mehr als zweitausend Deutsche interniert, von denen über die Hälfte umkamen. Unter ihnen waren auch NS -Verbrecher.
Theresienstadt als Ort des Schreckens und des Todes – das ist es, was die Welt zur Kenntnis genommen hat und was die Stadt in Tschechien zu einem der wichtigsten Touristenziele macht. Rund zweihundertvierzigtausend Besucher im Jahr registrierte die Gedenkstätten-Verwaltung in jüngerer Zeit. Im Krisenjahr 2009 ging die Zahl auf zweihundertzehntausend zurück, 2010 stieg sie wieder auf zweihundertsiebzehntausend.
Nur zum kleinen Teil haben die Besucher Lust, nach den Gedenkstätten auch die Stadt zu besichtigen oder gar in ihr zu übernachten. Es gibt auch wenig, was dazu verlockt. Gastronomie und Hotellerie werden – mit Ausnahmen – den Ansprüchen eines internationalen Publikums kaum gerecht, und das rund zweitausend Einwohner zählende Städtchen selber wirkt seltsam unbelebt. Im Karree der Straßen stehen neben restaurierten Gebäuden auch andere, von denen der Putz abbricht. Manches Haus steht leer, andere sind offenkundig nur im Oberstock bewohnt, Fernsehkabel ziehen sich quer über die Fassade zur Antenne hin. Hier sind herrliche Stuckaturen, Dachluken oder Holzportale zu bewundern, dort geben Verfärbungen der Wände und Schlaglöcher auf der Straße Signale des Verfalls und der Verwahrlosung. »Theresienstadt ist wirklich eine traurige Stadt«, sagt die Hoteliersfrau Libuše Šáchova. »Die Touristen kommen einmal her und dann nie wieder.«
»Wir brauchen mehr Leute hier, vor allem junge Leute«, meint Vladimíra Tvrdíková, die Inhaberin eines Textilgeschäfts am großen Platz. »Das ist eine tote Stadt«, pflichtet ihr der Rentner Luboš Kracík bei. »Ich meine das nicht abwertend, aber hier leben entweder Rentner oder Leute mit sozialen Schwierigkeiten.« Es fehlen hingegen Arbeitsplätze und Wohnungen für junge Leute. In Theresienstadt, das von den Tschechen Terezín genannt wird, gibt es viele freie Parkplätze, und das ist heutzutage kein gutes Zeichen.
Dabei ist das Potenzial der Stadt gewaltig, denn die Gesamtanlage ist ein architektonisches Juwel. Der Habsburger Herrscher Joseph II. hat sie als König von Böhmen 1780 erbaut, um hier zum Schutz gegen Preußen eine Garnison zu stationieren. Er ließ Bastionen, Gräben, Arsenale, Spitäler, Magazine, Kasernen und Wohnungen errichten und benannte die kleine Siedlung nach
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