Lesereise Zypern
Formalitäten auf dieses Minimum reduziert. Viele Nikosier nutzen das, um ihr Glück zu versuchen. Schon in Sichtweite der Grenze leuchtet das dicke, runde Emblem von »Cesar’s Casino«. Von zehn Uhr vormittags bis morgens um sechs läuft das Glücksspiel, wobei die nordzypriotischen Behörden die Glücklichen sind, denn dorthin fließen die Steuern.
Achtzig Glücksmaschinen auf zwei Etagen drehen sich. Für das Casino oben in dem Hochhaus ist nicht einmal ein Schlips Vorschrift. Leicht bekleidete Bardamen servieren Getränke. Das angeschlossene Hotel bietet genug Raum, auch weitergehenden Gelüsten, die männliche Gäste mitbringen, nachzugehen. Schwarz gekleidete Herren, die vom Eingang bis unter das Dach jeden Winkel bewachen, halten den Ball flach, wenn es doch einmal Streit geben sollte in dem Etablissement. Ein paar Meter weiter ist der Brunnen um die hohe Säule des Atatürk-Platzes längst ausgetrocknet. Rauchende Obsthändler, die einen Holzkarren schieben, versuchen ihre Früchte zu verkaufen. Ein großes Bild des Gründers der modernen Türkei oben auf dem Haus ist schon verblichen. Mustafa Kemal Atatürk hat es schon rein optisch schwer, sich gegen das viel zu rote Rot des Casino-Talers auf dem Hochhausdach gegenüber zu behaupten.
Es sind von hier nur wenige Meter bis zur Grenze quer durch die Hauptstadt, doch sie erscheinen wie ein Lichtjahr, so anders zeigt sich hier die Welt. Schuhputzer betteln um Kundschaft. Brettspieler, die quälend viel Zeit zu haben scheinen, setzen ihre Steine auf einem kippeligen Tisch auf dem Bürgersteig vor und zurück. An Häusern, die Ruinen gleichen, kleben die weißen Kästen von Klimaanlagen. Ein schäbiges Eckhaus mit verbarrikadiertem Eingang und Grasbewuchs wird durch ein blau leuchtendes Schild mit türkischer und englischer Aufschrift als »einzigartige Investment-Gelegenheit« angepriesen. Tafeln mit dem Aufdruck des Straßennetzes, die an verschiedenen Stellen im türkischen Teil stehen, sollen Fremde durch die Gassen leiten. Allerdings stellt sich bei näherem Hinsehen heraus, dass es leider nur Kopien von ein und demselben Plan sind – das »you are here«-Zeichen ist überall an derselben Stelle eingezeichnet, unabhängig vom Standort der Tafel.
In diesem Moment dient ein Brite, der seit rund zehn Jahren hier lebt und gerade mit zwei vollen Plastiktüten vom Einkaufen kommt, als lebender Wegweiser. Er erzählt, wie viel Stacheldraht früher die Gegend mitten in der Zweihundertachtzigtausend-Einwohner-Stadt prägte und damit Erinnerungen an Nordirland weckte. Heute sei alles freundlicher. Der Muezzin ruft – zumindest aus einem Lautsprecher. Katzen wechseln auch hier die Grenzlinie unbeschadet. Die beiden Helikopter der Vereinten Nationen, die hier stationiert sind, werden immerhin auch für Rettungseinsätze benutzt. Ein großer Fußballplatz an der venezianischen Mauer, die die geteilte Innenstadt noch umgibt, dient ihnen als Landeplatz. UN -Soldaten betätigen sich mit Minenräumen – eine weitere sinnvolle Aufgabe der ansonsten gelangweilt erscheinenden Grenzhüter.
In einem pompösen Wohnhaus des 19. Jahrhunderts serviert ein Türke Tee und Pulverkaffee. Schriftlicher Zuspruch und hübsche Malereien von Gästen sind auf Zetteln unter einer Glasplatte auf einem Tisch im Kaminzimmer zu bewundern. Es sind Momentaufnahmen von Empfindungen in einer geteilten Stadt. Wie überflüssig diese Trennung einem vorkommt, führen die Posten am nahen Übergang vor dem einst größten Hotel der Insel, dem geschlossenen Ledra-Palast, auf dessen Dach heute ein UN -Posten Dienst schiebt, unbeabsichtigt vor. Den Zettel mit der Passnummer und den Pass wollen sie kaum sehen. Die Grenzsoldaten müssen gerade darauf achten, dass die nordzypriotische Flagge gut im Wind steht. Das Schild »Lefkoşa«, der Name ihrer Hauptstadt, muss offenbar ebenfalls gerade jetzt abermals geputzt werden. Auf griechisch-zypriotischer Seite sind die Grenzsoldaten ähnlich gelangweilt. Sie winken einen durch, sobald sie den deutschen Pass aus der Ferne sehen, und rufen ein höfliches »Möörkell friend« dazu. Das soll bedeuten, sie betrachten die deutsche Bundeskanzlerin und damit Deutschland als befreundete Nation. Tatsächlich hatte sie erst neulich Nikosia einen Kurzbesuch abgestattet und ihre Verbundenheit bekundet.
Rund um die Kathedrale der Maroniten sind noch Unterstände mit Sandsäcken von 1974 zu sehen, als die Türken vorrückten, um den Nordteil der Insel und Nikosias zu
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