Lesley Pearse
Wahnsinnigen. Wie gefällt Ihnen diese Vorstellung?«
Lily antwortete nicht, ihre grauen Augen sahen sie nur verwirrt an. Matilda legte ihre Stirn gegen die Fensterscheibe und begann zu weinen. Obwohl sie im Zorn gesprochen und ihre Worte nicht bedacht hatte, war ihr in ihrer Wut plötzlich klar geworden, dass sie genau das prophezeit hatte, was passieren würde. Wie sehr Giles seine Frau auch lieben mochte, und so sehr er ihren beginnenden Wahnsinn auch verheimlichen würde, so wenig ließ sich vermeiden, dass die Kirche bald davon erfahren würde. Dann war Giles gezwungen, seine Frau in ein Heim zu geben. Reiche Leute konnten sich luxuriöse Sanatorien mit freundlichen und bemühten Ärzten leisten, aber er war schließlich nur ein armer Hilfspfarrer.
Matilda hatte für ihre Herrin schon die unterschiedlichsten Gefühle verspürt, seitdem sie für sie arbeitete. Bewunderung, Wut, Belustigung, Neid, Zärtlichkeit, Mitleid. Jetzt aber sah sie, dass sie begonnen hatte, Lily auch zu lieben. Warum sonst sollte sie sich so um sie sorgen?
Sie wünschte sich sehnlichst, dass die persönlichen Belange der Milsons sie kalt lassen würden, denn schließlich war sie nur ihre Angestellte. Aber die Frau war ihr einfach unter die Haut gegangen. Sie hatte Lily in ihr Herz geschlossen.
»Weine nicht, Matty!«
Matilda fuhr herum und sah, dass ihrer Herrin die Tränen über die Wangen liefen. Lily streckte ihr den Arm entgegen, genau wie Tabitha es manchmal tat. Matilda warf sich der zierlichen Frau in die Arme, als wäre sie selbst ein Kind.
»Es tut mir so Leid, Matty«, schluchzte Lily an ihrer Schulter. »Ich weiß, dass ich mich fürchterlich benehme, aber ich kann mir einfach nicht helfen.«
Matildas Ärger war genauso schnell verschwunden, wie er hervorgebrochen war. »Ich weiß«, entgegnete sie und hielt Lily fest. »Ich wünschte, ich könnte Ihnen die Trauer und den Schmerz nehmen und Ihnen zeigen, wie viel Ihnen geblieben ist, für das es sich zu leben lohnt.«
»Erzähl mir davon«, flüsterte Lily heiser.
»Nun, Sie haben den besten und anständigsten Ehemann der Welt, er ist ein guter, freundlicher Mann, der Ungerechtigkeiten aus der Welt schaffen möchte. Dies könnte er noch besser, wenn Sie ihm zur Seite stünden. Sie haben ein bewundernswertes Kind. Tabby ist klug und liebevoll und macht Ihnen wirklich Ehre. Beide lieben Sie so sehr. Sie haben Freunde, die Ihre Freundlichkeit und Güte bewundern, und mich, denn ich liebe Sie auch und werde alles dafür tun, damit es Ihnen bald besser geht.«
»Du liebst mich?« Lily schien überrascht zu sein. »Nach all den unfreundlichen Worten, die du von mir gehört hast?«
»Ja«, bekannte Matilda. »Nur deshalb habe ich Ihnen gesagt, wie schlimm es im Irrenhaus zugeht.«
»Ich liebe dich auch«, wisperte Lily. »Du bist mein Fels in der Brandung, meine Schwester und meine Freundin. Du wirst in meinem Herzen immer einen besonderen Platz einnehmen.«
Matilda hätte niemals erwartet, aus Lilys Mund solche Worte zu hören. Tränen liefen über ihre Wangen, denn sie spürte die Ehrlichkeit in ihnen. Während sie Lily noch im Arm hielt und sie tröstete, wurde ihr klar, dass sie die Grenze zwischen Dienerin und Freundin nun unwiderruflich überschritten hatte. Aber gleichzeitig bedeutete dies, dass sie ihre Reise zu Flynn nicht sofort antreten konnte.
10. K APITEL
A m Neujahrstag des Jahres achtzehnhundertfünfundvierzig, vier Monate nach Lilys Fehlgeburt, erhielt Matilda endlich eine Antwort von Flynn auf ihren Brief, in dem sie ihm erklärt hatte, warum sie nicht sofort aufbrechen konnte.
Matilda hatte nicht damit gerechnet, dass er diese Verzögerung als Bedrohung ihrer Zukunft ansehen würde. Sie hatte ihm erzählt, wie es Lily langsam besser ging und dass sie, Matilda, ihn noch liebte wie zuvor. Als sie jedoch seine verbitterte, wütende Antwort las, bemerkte sie, dass er ihre Entscheidung als eine Art Verrat angesehen hatte.
Du bist nur ihr Dienstmädchen, nicht ihre Tochter. Ich sollte wichtiger für dich sein, wenn du mich wirklich liebst, wie du ja behauptest, schrieb er. Ich habe auf dich gezählt, und alles, was ich getan habe, habe ich nur für dich getan. Mr. Donnelly wollte einen verheirateten Aufseher, und jetzt wird es ihm erscheinen, als hätte ich ihn belogen. Meine Arbeit ist hart, und ich brauche den Trost einer Frau, zu der ich am Ende eines langen Tages heimkehren kann.
Sie konnte sich kaum überwinden, den Rest des Briefes zu lesen, denn er
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