Lesley Pearse
flüsterte sie heiser. »Ich lasse ihn schon wieder im Stich.«
All die Verärgerung, Wut und Entrüstung, die Matilda jemals über diese Frau verspürt hatte, verflogen bei dieser einen verzweifelten Äußerung. Wie war es möglich, dass Lily den Verlust eines Kindes empfand, als ließe sie ihren Mann im Stich? Hätte sie in diesem Moment nicht zuerst den eigenen Verlust betrauern müssen? Es musste einen tief wurzelnden Grund hierfür geben. Gab es vielleicht ein Ereignis in ihrer Vergangenheit, das sie beunruhigte? Vielleicht war dies auch die Ursache für ihre Verstörung gewesen, als Tabitha krank geworden war.
Matilda wusste, dass Giles seine Frau von Herzen liebte, das sah sie jeden Tag aufs Neue. Aber vielleicht konnte Lily es nicht selbst erkennen? Sie rief sich ins Gedächtnis, wie abweisend Lilys Eltern sich gegenüber ihrer Tochter verhalten hatten, bevor sie England verlassen hatte. Sie hatten sie nicht einmal zum Hafen begleitet, um dem Schiff nachzuwinken. Vernachlässigung von Kindern gab es in vielfältiger Form, und Mangel an Interesse war wohl die grausamste, denn sie raubte dem heranwachsenden Menschen jegliches Selbstvertrauen.
Endlich verstand Matilda, dass Lilys Ängste allein hiermit zu erklären waren. Sie glaubte nicht genug an sich selbst, um mit Veränderungen umgehen zu können, sei es nun Krankheit, Armut oder ein neues Heimatland. Sie fühlte sich sogar ihres Ehemannes nicht würdig.
»Sie haben ihn nicht im Stich gelassen«, erklärte Matilda mit fester Stimme. »Mr. Milson weiß so gut wie ich, dass so etwas Schicksal ist. Er liebt Sie wirklich, Madam. Ich habe noch nie einen Mann gesehen, der seine Frau so liebt.«
Lily verlor das Baby einige Minuten bevor Giles mit dem Arzt zurückkehrte. Matilda spürte keinen Kummer, sondern wurde plötzlich von unbändiger Wut erfasst. Dieses Ehepaar glaubte mit all seiner Kraft an Gott und seine Güte, aber dieser Gott hatte sich entschieden, ihnen das Kind zu nehmen, das geliebt und umsorgt worden wäre. Auf der anderen Seite erlaubte er jedoch täglich, dass Menschen Kinder geschenkt wurden, die nicht einmal ein Dach über dem Kopf hatten und größte Not litten.
Erst einige Stunden später ließ Matilda den Tränen freien Lauf. Sie hatte sich zurückgehalten, während Giles und seine Frau über ihren Verlust geweint hatten. Lily war jetzt eingeschlafen, und ihr Gesicht wirkte wieder friedlich, nachdem der Schmerz vergangen war. Dennoch wusste Matilda, dass die körperlichen Qualen nicht mit der Trauer zu vergleichen waren, die aufbrechen würde, wenn das Schlafmittel des Doktors seine Wirkung verlor.
»Weine nicht«, bat Giles und stand von Lilys Bett auf, um Matilda zu trösten. »Du bist immer die Stärkere gewesen, lass mich jetzt nicht im Stich.«
»Ich lasse Sie nicht im Stich«, sagte sie und wischte sich die Tränen mit der Schürze fort. »Es ist Ihr gleichgültiger Gott, der Sie diesmal im Stich gelassen hat. Ich frage mich, wie Sie ihm dienen können, wenn er Sie so belohnt.«
»Es ist seine Art, uns zu prüfen«, erwiderte er und hob ihr Kinn hoch, um ihr geradewegs in die Augen zu sehen. »Aber ich verrate dir ein Geheimnis. Manchmal wünschte ich mir, ich wäre auch ein Ungläubiger wie du. Es muss sehr viel leichter sein, mit Wut umzugehen, wenn man annimmt, sein Schicksal ganz allein in der Hand zu halten, als wenn man sich Gottes Willen fügen muss.«
Fast drei Wochen später wischte Matilda im Wohnzimmer Staub, als der lang erwartete Brief von Flynn kam. Sie eilte sofort in den Garten, um ihn in Ruhe zu lesen.
Mein Liebling, schrieb er. Ich habe jetzt einen Job als Aufseher auf einer Baumwollplantage und ein kleines Haus für uns beide gefunden. Bitte komm mit dem nächsten Boot, und verzögere deine Abreise nicht. Die Plantage gehört Mr. Donnelly, einem Iren aus Connemara, und sie liegt ungefähr dreißig Meilen von Charleston entfernt. Einen schöneren Ort hast du sicher noch nie gesehen.
Du wirst dich wundern, dass ich auf einer Baumwollplantage arbeite, da du ja meine Ansichten über die Sklaverei kennst. Aber seitdem ich hier bin, habe ich meine Meinung, die nur durch Unwissenheit entstanden ist, revidieren müssen. Mr. Donnelly besitzt etwa dreißig Sklaven, aber ich kann dir versichern, dass er sie sehr gut behandelt. Doch das wirst du bald mit eigenen Augen sehen. Schreib mir, sobald du deine Bootsfahrt gebucht hast. Ich werde dich am Hafen abholen und zähle bis dahin jede Stunde, bis ich dich in meinen
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