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Lesley Pearse

Lesley Pearse

Titel: Lesley Pearse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wo das Gluck zu Hause ist
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Jahre alt und ging seit Weihnachten in eine Schule am Broadway. Da das Haus nun von neun Uhr morgens bis zwei Uhr nachmittags leer war, wurden Matilda die Tage oft lang, wenn nur ihre Herrin ihr Gesellschaft leistete. Lily ging es zwar jetzt schon viel besser, und sie beschäftigte sich den ganzen Tag mit Nähen, Backen und Lesen, dennoch lebte sie sehr zurückgezogen und verließ das Haus so gut wie nie.
    Giles dagegen arbeitete sogar noch mehr als früher, organisierte Suppenküchen für die Obdachlosen und hatte eine kleine öffentliche Schule eröffnet. Lily schien akzeptiert zu haben, dass Giles seine Arbeit fortsetzte und sie ihn oft an Orte führte, die sie selbst nie betreten würde. Angesichts dieser stillen Akzeptanz ihrer Herrin konnte Matilda ihm viel besser zur Seite stehen. Sie half ihm bei der Ausgabe des Essens für die Armen, überredete Eltern, ihre Kinder in die Schule zu schicken, und verteilte Kleidung an die Straßenkinder. In Five Points nach Waisenkindern zu suchen war inzwischen gar nicht mehr nötig, denn die Kinder fanden nun selbst den Weg zum »Trinity-Haus für heimatlose Kinder«.
    Cissy war inzwischen Betreuerin für die Kinder unter fünf Jahren geworden, und an dieser Arbeit hatte sie viel Freude. Sie war zwar unglücklich gewesen, als Pearl im November von einem kinderlosen Paar in Boston adoptiert worden war, aber bald hatte sie akzeptiert, dass es das Beste war. Sie hatte sogar angefangen, bei Mrs. Rowbottom lesen und schreiben zu lernen, damit sie in Zukunft mit dem Kind ihrer verstorbenen Freundin Kontakt halten konnte. Sidney wollte ebenfalls im Heim bleiben. Er wurde inzwischen als Dauergast akzeptiert, da er so hilfsbereit war und den jüngeren, wilderen Jungen ein gutes Beispiel bot.
    Obwohl Matilda in ihrer gemeinsamen Arbeit mit Giles aufging und wusste, dass sie ihr Leben lang ein schlechtes Gewissen gehabt hätte, wenn sie Lily während ihrer Krankheit verlassen hätte, hing ihr Herz noch an Flynn. Sie musste akzeptieren, dass er nicht der Mann war, für den sie ihn gehalten hatte, und es in Wahrheit ein glücklicher Zufall gewesen war, früh genug sein wahres Gesicht zu sehen.
    Eines Tages sah sie Rosa über den Fulton Fishmarket laufen. Sie hatte einen gewölbten Leib, ihr Haar war verfilzt und ihre Kleidung schmutzig. Matilda verachtete das Mädchen jedoch nicht mehr, denn ihre Zeit mit Flynn hatte ihr eine neue Sicht auf menschliche Schwächen verschafft. Sie selbst hätte schwanger werden können, wenn er sich nicht zurückgehalten hätte. Für diese Erkenntnis war sie sehr dankbar.
    »Was ist los mit dir, Matty?«, fragte Giles sie an einem Märzmorgen, während sie durch die Straßen liefen, um nach vier Jungen zu suchen, die plötzlich nicht mehr zur Schule kamen.
    Es war immer noch so kalt, dass Matilda sich gar nicht mehr vorstellen konnte, welche Hitze hier im August geherrscht hatte. New York war wirklich eine Stadt der Gegensätze. Hitze wechselte sich mit Eiseskälte ab, es gab unendlich viel Armut und unglaublichen Reichtum. New York war bunt und lebendig und gleichzeitig grau und trostlos. Hoffnung und Verzweiflung existierten nebeneinander, genau wie Trauer und Freude. Sogar ihre eigenen Gefühle für die Stadt schwankten zwischen Abscheu und Liebe.
    »Es ist alles in Ordnung, Sir«, entgegnete sie und lächelte. »Mir ist nur kalt.«
    Giles betrachtete sie von der Seite, während sie über die Pearl Street liefen. Sie trug einen grauen Wollmantel, der früher seiner Frau gehört hatte, und das Kleid darunter war ebenfalls grau. Zweifellos würden viele Leute seines gesellschaftlichen Standes sagen, dass sie für ein Dienstmädchen angemessen gekleidet sei, aber Grau passte nicht zu ihrem Charakter. Wenn er eine Farbe für sie wählen dürfte, würde es ein Blau sein, das der leuchtenden Farbe ihrer Augen entsprach. Er würde ihr blondes Haar von den Haarnadeln befreien und sie an einen Ort bringen, an dem sie sich etwas Fröhlicheres ansehen konnten, einfach nur, um sie wieder lachen zu hören. Es schien ihm Monate zurückzuliegen, dass er ihr Lachen gehört hatte.
    »Ich meine nicht nur heute. Du bist schon eine ganze Weile traurig«, stellte er fest. »Letztes Jahr dachte ich, du hättest einen Verehrer gehabt, weil du von deinen freien Nachmittagen immer so fröhlich und strahlend zurückgekehrt bist. Jetzt verlässt du das Haus fast gar nicht mehr. Was ist mit ihm passiert?«
    Matilda schluckte. Es war jetzt zu spät, ihm von Flynn zu erzählen.

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