Lesley Pearse
Armen halten kann. Dein dich liebender Flynn.
Sie musste den Brief zwei Mal lesen, bevor sie alles aufgenommen hatte. Ihre erste Reaktion war wilde Aufregung, doch sie wurde schnell durch die Erkenntnis gedämpft, dass sie unmöglich sofort nach Charleston reisen konnte. Ihr Herz war in Aufruhr, als sie wieder ins Haus ging und das Staubwischen fortsetzte.
Um Lily stand es sehr schlecht. Körperlich hatte sie sich zwar erholt, doch ihr Geisteszustand bereitete Giles, Tabitha und Matilda große Sorgen. Sie weinte nicht mehr, blieb aber in ihrem Zimmer und starrte stundenlang an die Decke. Nichts weckte ihr Interesse, weder ihre Tochter noch ihr Mann oder wenigstens Essen. Dr. Kupicha konnte ihren Zustand nicht erklären und meinte, keine Medizin könne helfen, sondern lediglich Zeit und Geduld.
Aber gerade diese Geduld verlor Matilda langsam. So traurig es sein mochte, ein Kind zu verlieren, starben doch vier von zehn Babys innerhalb des ersten Lebensjahres. Unter den Armen lag die Sterberate sogar noch höher, und Matilda kannte persönlich einige Frauen, die drei oder sogar vier Babys verloren hatten. Sie trauerten, doch schließlich akzeptierten sie die Tragödie, weil es nun einmal der Lauf der Dinge war.
Giles war vor Angst außer sich. Tabitha fragte ständig, warum ihre Mutter sie nicht mehr mochte, und beide waren auf Matildas Trost angewiesen. Wie sollte sie also Giles erklären, dass sie sie verlassen würde? Sie wollte so gern zu Flynn gehen und die große Last der Verantwortung endlich ablegen. Sie wollte Leidenschaft und Liebe, Abenteuer und Spaß, sie wünschte sich, Mrs. O’Reilly zu sein und ein eigenes kleines Heim zu haben. Sie fand es ungerecht, dass sich das Schicksal scheinbar gegen ihr Glück verbündet hatte.
Später an diesem Nachmittag saß Giles in seinem Arbeitszimmer und bereitete seine Sonntagspredigt vor, und Matilda und Tabitha spielten ihre Wortlernspiele in der Küche, als ein Gewitter losbrach. Es kam völlig unerwartet – im einen Moment hatte die Sonne noch geschienen, im nächsten wurde der Himmel plötzlich schwarz, und der Regen fiel in Strömen herab. Der Blitz kam, noch bevor Matilda die Tür schließen konnte, und erhellte die Küche heller, als ein Dutzend Kerzen es vermocht hätten. Tabitha schrie vor Angst auf.
»Es kann uns nichts antun«, versicherte Matilda und zog sie in die Arme. »Hier drinnen sind wir sicher.« Es donnerte plötzlich so laut, als wäre das Gewitter direkt über dem Dach. Der Wind rüttelte an den Fenstern.
Plötzlich fiel Matilda ein, dass Lilys Schlafzimmerfenster noch geöffnet war, und sie rannte schnell nach oben. Der Raum war in ein seltsames graugrünes Licht getaucht, der Regen strömte durch das offene Fenster herein, und die Gardinen wehten im Wind. Lily jedoch lag still im Bett und schaute ins Nichts, sie blinzelte nicht einmal beim nächsten Blitz. Matilda schloss das Fenster, wischte das Wasser vom Boden auf und wandte sich Lily zu.
»Hören Sie nichts?«, fragte sie.
»Was sollte ich hören?«, gab Lily mit der flachen Stimme zurück, die sie sich seit ihrer Fehlgeburt zugelegt hatte.
»Den Regen und den Donner?«, antwortete Matilda. »Warum stehen Sie nicht auf, kommen ans Fenster und schauen sich das an? Die Straße hat sich schon in einen reißenden Bach verwandelt.«
Lily blieb stumm liegen und reagierte nicht.
Plötzlich wurde Matilda wütend. Diese Frau besaß alles, was sie selbst sich wünschte, einen liebenden Mann, ein wunderbares Kind und ein sicheres Heim. Dennoch verging sie in Selbstmitleid und jagte ihrer Tochter und ihrem Mann mit ihrem geistigen Zustand Angst ein, während sie sich von Matilda bedienen ließ, der sie vor einiger Zeit noch gedroht hatte, sie umzubringen. Nur ihretwegen konnte Matilda nicht sofort zu dem Mann gehen, den sie liebte. »Dann bleiben Sie in diesem Bett, wenn es das ist, was Sie wollen«, schimpfte sie. »Bemitleiden Sie sich weiter, solange Sie wollen. Aber ich sage Ihnen eines, Lily Milson, wenn Sie so weitermachen, wird es nicht lange dauern, bis Sie im Irrenhaus landen.«
Lily sah sie mit großen Augen an. Der Schock über Matildas Offenheit stand ihr ins Gesicht geschrieben.
»Wissen Sie, wie es im Irrenhaus zugeht?« Matilda wurde von Wut und Frustration überwältigt. »Sie werden angekettet, keiner wäscht oder kämmt Ihr Haar, Sie werden Läuse bekommen, und in der Nacht klettern Ratten über Ihren Körper. Und alles, was Sie hören werden, ist das Geschrei der
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