Lesley Pearse
umgehen sollte, denn sie hatte noch nie einen Mann wie ihn getroffen. War es klüger, ihn zu ignorieren oder sich ihm gegenüber höflich zu verhalten? »Du darfst nicht freundlich sein«, sagte sie sich. »Er würde das als Schwäche auffassen.«
»Es ist, als stünden wir still«, stöhnte Tabitha an einem Morgen ein paar Wochen später. »Jeden Tag der gleiche Anblick, nur Gras und Gras und immer noch Gras. Kein Baum, an dem man sehen könnte, dass wir uns fortbewegt haben.«
Matilda lachte. Das Kind hatte völlig Recht. Die Weite der Steppe war wirklich beunruhigend, und im Umkreis von hundert Meilen gab es nichts, außer natürlich Indianer und Büffel. Nachts hörten sie die seltsamsten Geräusche, und es war nur nahe liegend, sich vorzustellen, wie Indianer sich anschlichen oder gefährliche Raubtiere auf ihre Gelegenheit warteten.
Am Vortag hatten sie eine Büffelherde gesehen. Sie hatten sie lange vorher gehört. Einer der Scouts hatte erklärt, es müssten an die zweitausend Tiere gewesen sein. Matilda hatte zuerst Angst gehabt, war dann aber von den Büffeln mit ihrem struppigen
Fell und den dunklen, traurigen Augen begeistert gewesen. Einige der Frauen waren entsetzt, als der Captain vorschlug, sie sollten den Dung der Tiere einsammeln. Matilda lachte, als sie vorsichtig über die Steppe liefen und ihre Nase beim Einsammeln rümpften. Sie trug sich nicht mit solchen Bedenken, solange der Kot gut brannte. Und das tat er, sogar ohne Qualm, und deshalb wollte sie fortan immer einen Sack davon vorrätig haben.
»Wir haben noch eine Menge von diesem Grasland vor uns«, antwortete Matilda. »Zumindest fährt es sich darauf gut, und die Tiere haben genug zu fressen. Das wird sich ändern, sobald wir in die Berge kommen.«
Ein gellender Schrei aus den hinteren Wagen schreckte sie auf, und sie drehten sich herum. Zu Matildas Entsetzen kam eine Gruppe Indianer in vollem Galopp auf den Treck zugeritten. Es waren an die zwanzig Männer, fast nackt, bis auf einen Fetzen Leder, der ihre Genitalien bedeckte.
»Haben Sie keine Angst!«, rief Captain Russell. »Schließen Sie auf, bleiben Sie ruhig, und lassen Sie die Gewehre, wo sie sind. Sie sind uns nicht feindlich gesinnt.«
Matilda tastete mit dem Fuß dennoch nach ihrem Gewehr unter dem Sitz und bewegte es in eine Position, in der sie es jederzeit gut erreichen konnte, wenn sie es brauchen sollte. Ihr Herz schlug schneller, und ihr brach der Schweiß aus.
»Sind sie nicht wunderschön?«, rief Tabitha aufgeregt aus, als die Indianer näher kamen. Tabitha hatte Recht, aber Matilda war sich nicht sicher, ob sie wirklich so ungefährlich waren, wie der Captain behauptet hatte. Sie hatten inzwischen ihre Pferde angehalten und warteten, bis einer der Scouts auf sie zugeritten kam. Sie waren groß und stolz, ihr schwarzes Haar und ihre mahagonibraune Haut glänzten in der Sonne, und ihre verschlossenen Gesichter ließen keine Gefühlsregung erkennen.
Der Scout sprach nicht mehr als ein paar Worte mit ihnen, kehrte dann um und ritt zu Captain Russell zurück, der nickte, als stimmte er irgendetwas zu. Dann drehte auch er sich um und ritt am Planwagentreck entlang, bis Matilda ihn nicht mehr sehen konnte.
Es verging eine angespannte halbe Stunde, bis der Captain und der Scout wieder auf die Indianer zuritten, die unbeweglich gewartet hatten. Diesmal trugen die Männer einige Säcke, eine Decke und ganz offenbar eine Reihe Männerhemden. Die Indianer nahmen die Sachen entgegen, drehten sich um und ritten davon.
»Weiter gehts«, rief der Captain. »Das Schauspiel ist zu Ende.«
Später ritt er an Matildas Wagen entlang, während Tabitha im Innern ein Nickerchen machte. »Hatten Sie Angst?«, erkundigte er sich und schob seinen Hut aus dem Gesicht.
Sie fand es seltsam, dass der Captain sie so oft nach ihrer Meinung fragte. Sollte dies etwa eine Art Prüfung sein? »Nein«, log sie. »Hätte ich Angst haben sollen?«
»Die meisten Frauen fürchten sich«, gab er mit einem Lächeln zurück. »Ich hatte bereits Frauen im Treck, die bei dem bloßen Anblick von Indianern in Ohnmacht gefallen sind. Alle denken, sie seien mordlustige Wilde, nur weil ein paar dumme Gerüchte über sie verbreitet worden sind. Diese Gruppe hat ihr Territorium abgesichert. Das Mehl und die Lebensmittel waren eine Art Zahlung dafür, dass wir ihr Land passieren dürfen.«
»Von wem haben Sie die Lebensmittel bekommen?«, hakte sie nach und überlegte, ob sie alle etwas hätten anbieten
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