Lesley Pearse
heißt ab sofort Tabitha Jennings. Stört dich das?«
»Nein.« Tabitha lächelte. »Aber was soll ich sagen, wenn ich nach meinem Vater gefragt werde?«
»Das müssen wir uns noch überlegen, während wir weiterfahren«, entschied Matilda. »Was soll er denn in deinen Augen gewesen sein?«
»Ein Doktor«, rief Tabitha, ohne zu zögern. »Dann kann ich den Leuten erzählen, dass ich deshalb auch einer werden möchte. Aber steckst du nicht besser Mamas Ehering an? Die Leute werden merken, dass du keinen trägst.«
Die kluge Beobachtung des Mädchens erstaunte Matilda, und sie war bewegt, dass es Tabitha nicht störte, wenn sie Lilys Ring trug. »Das ist eine sehr schlaue Idee«, lobte sie und lächelte Tabitha an. »Ich werde ihn in der Mittagspause herausholen.«
Das milde, trockene Wetter hielt acht Tage an. Jeden Abend, wenn der Treck anhielt, um das Nachtlager zu errichten, gab es genügend Möglichkeiten zum Grasen für die Ochsen und ausreichend Wasser, da sie einem Fluss folgten. Sie legten täglich an die zwanzig Meilen zurück, weil der Weg gerade und eben war.
Nach Einbruch der Dunkelheit wurde das Camp durch die vielen Feuer hell erleuchtet, was schön anzusehen war, und ein älterer Mann, der Geige spielen konnte, war sehr gefragt. Alle waren bester Laune, die Menschen tanzten und sangen freudig. Für Matilda und Tabitha war es wie ein Urlaub. Endlich hatten sie wieder Zeit, miteinander zu lachen und zu reden. Sie teilten sich die Arbeit auf und sprachen mehr über die Zukunft, als traurig zurückzublicken. Wenn Tabitha glücklich mit Treacle an ihrer Seite am Wagen entlanglief oder im Fluss herumplantschte, während sie die Wasserkanister auffüllten, war Matilda dankbar, dass sie ihr die unbeschwerte Kindheit hatte zurückgeben können, die sie beinahe vollkommen verloren hatte.
Aber am neunten Tag kam der Regen, und plötzlich entdeckten sie die weniger angenehmen Aspekte des Lebens im Freien. Für Matilda und Tabitha in der vorderen Position war der aufgeweichte Grund kein Problem, aber wenn erst einmal zehn oder zwölf Wagen darüber gefahren waren, blieben die letzten unweigerlich im aufgeworfenen Schlamm stecken, und die Fahrt verlangsamte sich zusehends.
Während Tabitha mit Treacle im Innern des Planwagens blieb und sich mit Lesen die Zeit vertrieb, saß Matilda auf dem Bock und führte die Ochsen. Doch trotz des Regenschutzes, den sie über ihren Kopf und die Schultern gelegt hatte, wurden ihr Kleid und die Unterröcke nass, und ihre Hände waren steif und kalt. Am Abend konnten sie nicht kochen, weil sie kein trockenes Feuerholz fanden, und als sie ins Bett kletterten, entdeckten sie, dass die Feuchtigkeit sich einen Weg ins Innere gesucht hatte, denn die Decken und Matratzen waren klamm.
»Denkst du immer noch, dass es gemütlich ist?«, scherzte Matilda, als sie aneinander gekuschelt dalagen, um sich warm zu halten, und dem Regen lauschten, der auf die Zeltplane trommelte.
»Wenigstens müssen wir nicht draußen schlafen wie manche andere«, sagte Tabitha. »Wusstest du, dass es einen Wagen gibt, in dem eine Familie mit neun Kindern fährt? Nur die Kleinsten und die Mutter schlafen drinnen.«
Eine von Tabithas Hauptfreuden während dieser Reise bestand in der Möglichkeit, sich frei unter andere Menschen zu mischen. Früher in Independence war sie in die Schule gegangen und nachmittags zu Hause geblieben. Nur auf Einladung hatte sie Freundinnen besuchen dürfen. Hier konnte sie mit den Kindern Fangen spielen, andere Mädchen in den Wagen einladen und mit den Puppen spielen, während der Wagen rollte. Manchmal spielten sie Schule. Dann war Tabitha immer die Lehrerin, weil sie besser lesen und schreiben konnte als alle anderen. Genauso traf sie aber auch die Eltern der befreundeten Kinder, erfuhr eine Menge über die Mitreisenden und gab alles an Matilda weiter.
Tabithas beste Freunde waren jedoch die drei Scouts, und auch sie hatten das Mädchen ins Herz geschlossen. Oft ritten sie an Matildas Wagen vorbei und setzten Tabitha kurz auf ihre Pferde. Zunächst war Matilda ein wenig ängstlich gewesen, besonders wegen der Halbblüter, doch Captain Russell hatte ihre Bedenken zerstreut. »Indianer kümmern sich sehr viel besser um Kinder als die Weißen«, versicherte er, »und da wir auf unserem Weg noch viele Indianer sehen werden, ist ihr Einfluss auf Tabitha sicher nur von Nutzen.«
Am Morgen des zehnten Tages, einem Sonntag, war es wieder sonnig. Der Captain entschied, einen Tag zu
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