Lesley Pearse
unbedingt einen Besuch abstatten.«
Matilda war jetzt froh, sich in Marias Angelegenheiten eingemischt zu haben, denn ansonsten hätte sie diese faszinierende Frau niemals getroffen. Wie Cissy diese Geschichte lieben würde! Impulsiv griff sie nach der Hand der alten Dame.
»Wir sollten in Kontakt bleiben«, meinte Zandra mit einem breiten Lächeln. »Ich würde gern etwas über Ihre Familie und Kinder hören und wie sich Ihre Geschäfte entwickeln. Ich könnte meinen Gentlemen und anderen, die sich für Holz interessieren, davon berichten.«
Diese Idee gefiel Matilda sehr gut. Sie nahm einen Stift, schrieb ihre Adresse auf und reichte Zandra den Zettel.
Als sie sich zum Gehen anschickte, verspürte sie ein seltsames Gefühl des Bedauerns. Nicht, weil sie so offen gesprochen hatte, sondern weil sie Zandra nicht schon früher getroffen hatte. Jeder Mensch, der in ihrem Leben eine wichtige Rolle gespielt hatte, war ihr aus purem Zufall begegnet, und sie ahnte, dass auch Zandra einer dieser Menschen war. Vielleicht spürte die Comtesse es ebenfalls, denn sie erhob sich, nahm Matildas Hände, zog sie an sich und küsste sie auf die Wangen.
»Au revoir«, sagte sie sanft. »Die Franzosen benutzen dies als Abschiedsgruß, aber die eigentliche Bedeutung ist: ›Bis wir uns wiedersehen!‹«
17. K APITEL
M atilda konnte Sidneys unverwechselbaren roten Haarschopf schon erkennen, als das Schiff noch weit vom Ufer entfernt war. Sie winkte ihm aufgeregt zu. Sidney winkte zwar zurück, aber für einen so lebhaften Jungen erschien sein Gruß recht zurückhaltend. Als Matilda näher ans Ufer kam, spürte sie, dass etwas nicht stimmte. Die Art, wie er mit hängenden Schultern dastand und die Hände in den Taschen vergraben hatte, verriet seine Niedergeschlagenheit.
Das Boot legte an, und Matilda sprang von Bord, ohne auf Hilfe durch die Crew zu warten. Sidney stürzte auf sie zu und schlang verzweifelt seine Arme um sie.
»Was ist passiert, Sidney?«, fragte sie. Aber er drückte sie nur fester an sich. Sein schlanker Körper bebte, und er hatte sein Gesicht in ihre Schulter vergraben.
»John ist tot.«
Matilda hörte seine Worte, aber sie traute ihren eigenen Ohren nicht. Sie schob ihn von sich weg, damit sie ihm ins Gesicht sehen konnte. Sidney kämpfte zwar gegen die Tränen an, aber seine rot umränderten Augen und das aschfahle Gesicht verrieten, dass er in den letzten Tagen unablässig geweint hatte.
»Tot?«, rief sie aus, und ein eiskalter Schauer ergriff sie, obwohl es ein sehr heißer Nachmittag war. »Wie konnte er sterben?«
»Er wurde von einer Ladung Holz erschlagen«, sprudelte er hervor. »Oh, Matty, es ist fürchterlich! Wie soll ich es dir bloß erzählen?«
Matilda nahm seine Hand und führte ihn an die Seite.
»Es ist vor zehn Tagen passiert«, sagte er schluchzend. »Wir sind mit dem Wagen voller Holzstämme zurück zum Sägewerk gefahren. Es regnete in Strömen, und John schickte mich fort, um Bill Wilder zu holen, der uns beim Entladen helfen sollte. Irgendwann muss John das Warten satt gehabt und die Ketten schon einmal selbst gelöst haben. Wahrscheinlich ist er auf dem nassen Holz ausgerutscht und gestürzt. Dann sind die Stämme auf ihn gefallen.« Sidney verlor die Fassung und weinte wie ein kleines Kind. »Es ist so ungerecht!«, schluchzte er. »John liebte sein Holz. Er wollte für jeden gefällten Baum einen neuen pflanzen. Und wenn nicht alle Männer zur Goldsuche verschwunden wären, hätte uns jemand helfen können. Es hat zu lange gedauert.«
Matilda brach nun auch zusammen und hielt Sidney in ihrem Schmerz fest umschlossen. Es war schrecklich, dass ein hart arbeitender Mann wie John auf so grausame Weise hatte sterben müssen. Sie wagte kaum, nach Cissy zu fragen. Sicher musste ihre Freundin denken, dass auch ihr eigenes Leben zu Ende war.
»Wir haben seinen Leichnam auf dem Wagen nach Hause gefahren und ihn ein paar Tage später beerdigt«, berichtete Sidney nach einiger Zeit. »Es war so schrecklich, auch weil du nicht da warst. Aber inzwischen ist es noch schlimmer geworden. Cissy ist nicht mehr sie selbst und kann nicht mehr für sich sorgen. Peter fragt ständig nach seinem Vater, und ich kann ihm nicht erklären, dass er nicht wiederkommt.«
»Wie geht es Tabby und Amelia?«, wollte Matilda wissen. Plötzlich wurde ihr Herz von Furcht ergriffen.
»Gut«, antwortete Sidney mit flacher Stimme. »Tabby hat sich sehr gut um Amelia und Susanna gekümmert, aber sie sorgt sich
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