Lesley Pearse
um Cissy und sehnt sich nach dir. Ich habe ihnen versichert, dass alles gut wird, sobald du wieder da bist.«
Matilda fühlte sich, als würde ihrem Körper langsam das Blut entzogen. Sie hatte zwei Wochen lang an fast nichts anderes als an Johns Freude über das volle Auftragsbuch gedacht.
»Ich vermisse ihn so sehr«, flüsterte Sidney, und seine Augen füllten sich wieder mit Tränen. »Er war wie ein Vater für mich! Ich weiß nicht, was ich ohne ihn tun soll.«
Matilda umarmte ihn für einen Moment. Cissy und Sidney hatten sich bislang immer auf John verlassen, denn er hatte eine Ausbildung, Weitsicht und Weisheit besessen. Selbst Matilda hatte sich auf ihn gestützt. Sie konnte nichts entgegnen, was Sidneys Schmerz verringern würde. »Du hast ja noch mich«, flüsterte sie. »Lass uns jetzt nach Hause gehen.«
Cissy saß am Kamin und starrte selbstvergessen ins Feuer, als sie an der Hütte ankamen. Sie blickte Matilda an wie eine Fremde und reagierte nicht einmal auf ihre Umarmung. Sidney berichtete, dass sie sich seit der Beerdigung kaum von der Stelle bewegt hatte und zwischenzeitlich mit John zu sprechen schien.
Cissy sah genauso schmutzig und verwahrlost wie die Hütte aus. Ihr Haar war verfilzt wie ein Vogelnest, und ihr Kleid war falsch geknöpft. Ihre früher vollen Wangen waren eingesunken, ihre Haut sah grau aus, und ihre grünen Augen leuchteten nicht mehr.
Tabitha war ihnen entgegengelaufen, sobald sie den Wagen gehört hatte, und hatte sich in Matildas Arme geworfen. Inzwischen hatte sie sich wieder ein wenig beruhigt. Sie saß mit der strampelnden Amelia auf dem Schoß auf ihrem Bett, während sie Susanna davon abzuhalten versuchte, zu Matilda zu krabbeln, die gerade Cissy umarmte. »Warum verhält sie sich so, Matty?«, fragte sie in kühlem Tonfall.
»Es ist der Schock«, erklärte Matilda. Sie war sich plötzlich sehr bewusst darüber, dass sie ihre eigenen Gefühle den Kindern zuliebe verbergen musste. »Jetzt, da ich mich um euch alle kümmern kann, wird es ihr bald besser gehen.« Doch sie war nicht wirklich sicher, ob ihre Anwesenheit Cissys augenblickliche Gesundung mit sich bringen würde. John war nicht einfach nur ihr geliebter Ehemann gewesen. Er hatte Cissys Erinnerungen an ihre schreckliche Kindheit verbannt und ihr ein Leben ermöglicht, das sie sich zu ihrer Zeit in Five Points nicht einmal hätte vorstellen können. Jedes einzelne Möbelstück in dieser Hütte hatte er selbst gefertigt und würde sie an ihn erinnern. Immer wenn Susanna auf ihren Schoß kletterte und Cissy anblickte, würde sie in Johns blaue Augen sehen. Die Träume, die sie miteinander geteilt hatten, hingen in der Luft und schienen sie zu verspotten. Matilda vermutete, Cissy war in Gedanken wieder in diesem kalten, nassen Keller in New York. In ihrem verwirrten und trauernden Zustand musste es ihr erscheinen, als wäre alles Gute für immer vergangen.
»Ich habe versucht, Cissys Arbeit zu erledigen«, sagte Tabitha mit zitternder Stimme. »Aber ich habe nicht alles geschafft.«
Matilda blickte in Tabithas kummervolles Gesicht, sah die dunklen Ringe unter ihren Augen und ihre roten, geschwollenen Hände. Beim besten Willen konnte ein neunjähriges Mädchen es nicht mit einem Baby, einem Kleinkind und einem Sechsjährigen aufnehmen und nebenbei noch kochen, die Tiere füttern, putzen und waschen.
»Du hast alles großartig gemacht, Tabby. Ich bin sehr stolz auf dich«, lobte sie sie. »Gib mir Amelia einmal herüber. Und sie kann wirklich schon krabbeln?«
Nachdem sie so lange von zu Hause fort gewesen war, sehnte sie sich danach, mit ihrem Baby allein zu sein. Sie wollte es an sich drücken und es genau beobachten. Aber sie konnte ihrem eigenen Kind momentan keine besondere Beachtung schenken, da Tabitha, Susanna und Peter sie noch mehr brauchten.
»Ich habe Angst vor Tante Cissy«, gestand Tabitha später am Abend, während Matilda die Kinder zum Bach brachte, damit sie sich einmal ordentlich waschen konnten.
»Angst vor Cissy?«, rief sie aus. Sicher ist es besser, Cissys Verhalten zu verharmlosen, als es Tabitha zu erklären, dachte sie bei sich. »Als Nächstes wirst du sagen, dass du vor mir Angst hast.«
»Nun ja, sie sollte daran denken, dass sie eine Mutter ist«, entgegnete Tabitha und spitzte die Lippen auf eine Weise, die Matilda plötzlich sehr eindeutig an Lily erinnerte. »Sie nimmt nicht einmal mehr Susanna auf den Arm.«
»Selbst Mütter werden manchmal krank«, antwortete Matilda
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