Lesley Pearse
anderen jetzt besser auf«, gab sie lachend zurück. Sie fühlte eine Welle der Zuneigung für den Jungen in sich aufkommen. »Aber nun müsst ihr alle lernen, den Abort draußen zu benutzen. Und anschließend müsst ihr euch Gesicht und Hände waschen.«
»Schon wieder waschen?«, murmelte Sidney völlig erstaunt.
»Genau«, antwortete Matilda und grinste. »Ansonsten gibt es kein Frühstück für euch.«
»Ich dachte, wir hätten gestern schon das Schlimmste hinter uns gebracht«, gab Giles müde zu, als sie in der Kutsche zurück zur Fähre über den Hudson River saßen. »Mit so vielen Problemen hätte ich nie gerechnet. Denkst du, dass sie sich alle einleben werden?«
Matilda rief sich das Aussehen des ›Trinity-Hauses für heimatlose Kinder‹ in Erinnerung. So kalt und unwirtlich es von außen auch aussah, wusste sie doch, dass es für die Waisenkinder endlich ein Ort der Sicherheit war.
»Natürlich werden sie sich einleben«, erwiderte sie. »Sie können nicht erwarten, dass Kinder, die bislang ohne jegliche Disziplin gelebt haben, sofort in Reih und Glied stehen. Sie brauchen etwas Zeit. Wenn Sie mich damals nicht nach Primrose Hill gebracht hätten, sondern an einen solchen Ort, wäre ich vermutlich sofort weggelaufen.«
»Fandest du das Haus so schlimm?«, hakte Giles entsetzt nach.
Sie lachte. »Nun ja, die langen, sauberen Gänge, die Bettenreihen in den Schlafsälen und der strenge Gesichtsausdruck der Heimmutter mit der schneeweißen Schürze hat den Kindern Angst gemacht.«
»Miss Rowbottom hat die besten Zeugnisse aufzuweisen«, entgegnete Giles entrüstet. »Sie sorgt sich um die Belange von Slumkindern ebenso wie du und ich.«
»Das glaube ich gern«, gab Matilda zurück. »Aber ein Lächeln hier und dort hätte nicht schaden können. Ich kann nur sagen, es ist ein Segen, dass sie die Kinder gestern noch nicht gesehen hat.«
»Ich kenne wenige Menschen, die mit dem Anblick leicht zurechtgekommen wären«, seufzte Giles. »Doch wirf ihr das nicht vor, Matty. Nicht jeder hat dein Durchhaltevermögen.«
»Ich meine nicht, dass sie ein schlechter Mensch ist. Sie wird den Kindern eine gute Lehrerin sein und sie gerecht behandeln. Ich würde mir nur einen mütterlicheren Menschen als Heimleiterin wünschen.«
Es war ein Tag voller Ängste gewesen. Zwei Erwachsene, die auf achtzehn furchtsame Kinder aufpassen sollten, waren nicht genug gewesen. Einige der Kinder waren wegen der fremden Bewegung auf der Fähre und den ungewohnt vollen Bäuchen krank geworden. Einer der älteren Jungen hatte beim Anblick des Heims versucht, die Flucht zu ergreifen, weil er überzeugt war, es sei ein Gefängnis. Sobald sie das Haus betreten hatten, waren alle Kinder eingeschüchtert und unkooperativ gewesen. Die schlimmen Worte, die sie benutzt hatten, hatten selbst Matilda erbleichen lassen, und die meisten von ihnen hatten vergessen, dass sie sich nicht mehr überall erleichtern durften.
Dennoch gab es auch viele gute Momente. Kleine, überraschte Gesichter und Augen, die sich beim Anblick von Feldern, Bäumen und Kühen vor Erstaunen weiteten. Die Art und Weise, wie sie vorsichtig ihre Betten ausprobierten und fragten, wer es mit ihnen teilen würde. Ihre Freude, dass bei ihrer Ankunft eine weitere Mahlzeit auf sie wartete. Das Feuer im Kamin des Raumes, das ihr Spielzimmer sein würde, faszinierte die Kinder. Matilda fragte sich traurig, wie lange es dauern würde, bis sie sich nicht mehr wie kleine Greise verhalten und sich vom Feuer abwenden würden, um die Bedeutung des Spielens kennen zu lernen.
Sidney war ihnen eine große Unterstützung. Er allein schien sich für alles begeistern zu können, und sobald eines der Kinder Ärger machte, schritt er ein und munterte es auf.
Für Matilda war einer der traurigsten Aspekte des Tages, dass sie sich in Zukunft nicht weiter um die Kinder kümmern konnte. Sicher würde sie die Waisen wiedersehen, sobald sie eine zweite Gruppe nach New Jersey begleitete, aber das würde nur ein kurzer Moment sein. Am liebsten hätte sie Giles gefragt, im Heim arbeiten zu dürfen. Genauso ungern wollte sie aber Tabitha verlassen oder Lily enttäuschen, indem sie ihr den Dienst aufkündigte.
Giles beobachtete Matilda, als die Fähre ablegte, und plötzlich durchfuhr ihn die Erkenntnis, dass sie eine wunderschöne Frau war. Zwar war ihre Schönheit nicht klassischer oder edler Natur – ihre Züge waren zu stark ausgeprägt und ihre Hautfarbe zu kräftig für feine Salons –,
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