Lesley Pearse
den Kopf rasieren würden. Oder Ihre Frau anlügen könnten.«
»Das hätte ich auch nicht gedacht«, gestand er und grinste. »Weißt du, wovor ich wirklich Angst hatte?«
»Wovor?«, fragte Matilda und stellte den Kaffee vor Giles ab.
»Dass sie einen seltsamen Geruch an uns feststellen würde. Ich kann das Mittel, das wir den Kindern auf den Kopf gerieben haben, jedenfalls immer noch riechen.«
»Ich auch«, Matilda lächelte. »Ich vermute, wir werden es auf Lebzeiten in der Nase haben. Als kleine Strafe für unsere Lügen.«
Sie aßen in kameradschaftlichem Schweigen.
»Der Doktor sagte, die meisten Kinder seien robuste kleine Kerle«, meinte Giles nachdenklich. »Doch er macht sich Sorgen um das Kind, das die anderen Injun nennen, und um ein anderes kleines Mädchen. Sie haben beide angegriffene Lungen und Atembeschwerden. Ich hoffe, sie werden sich diese Nacht gut benehmen. Ich würde mich besser fühlen, wenn wir sie heute schon nach New Jersey gebracht hätten.«
Als sie sich entschlossen hatten, dass es zu spät sei, um noch dorthin aufzubrechen, hatten sie Betten aus Stroh gebaut und Decken darüber gelegt.
»Ich hoffe, sie benutzen die Nachttöpfe, die ich ihnen hingestellt habe«, seufzte Matilda. Sie hatte den Kindern zu diesem Thema einen kleinen Vortrag gehalten, aber obwohl die Älteren wohl begriffen hatten, was sie meinte, und ihr gern alles recht machen wollten, hatten die Kleineren ihr Anliegen sicher nicht verstanden.
»Sidney ist ein cleveres Kerlchen, er wird auf sie aufpassen«, entgegnete Giles. »Es war ein glücklicher Zufall, dass du ihn schon vorher getroffen hattest, und ich bin mir sicher, dass er uns eine große Hilfe sein wird, wenn wir weitere Kinder für das Heim finden wollen.«
Matilda lachte.
»Was amüsiert dich so?«, wollte Giles überrascht wissen.
»Sidney. Er erinnert mich in vielerlei Hinsicht an meinen Bruder Luke. Ich fürchte, er muss mit Argusaugen bewacht werden.« Matilda hatte bislang weder Giles noch Lily viel über ihre Brüder erzählt, doch jetzt, nach einem solchen Tag, hatte sie das Bedürfnis danach. Sie wollte Giles zeigen, dass man manche Kinder zwar retten konnte, dass anderen aber auch mit dem größten Aufwand und selbst nicht mit Liebe geholfen werden konnte.
»Ich fürchte, wir können Bosheit genauso erben wie gutes Aussehen oder Intelligenz«, fügte sie mit einem gezwungenen Lächeln hinzu. »Ich glaube nicht, dass alles von unserer Erziehung abhängt.«
»Vielleicht wird Sidney morgen tatsächlich verschwunden sein«, meinte Giles schulterzuckend. »Ich hoffe nur, dass er nicht Tad Kupichas Silber mitgehen lässt.«
»Ich sagte nur, dass er mich an Luke erinnert«, erklärte Matilda. Sie wollte, dass Giles sie richtig verstand. »Es ist seine Haarfarbe und seine Direktheit. Ich glaube aber, dass er ein guter Junge ist. Wenn es anders wäre, hätte er Geld für seine Dienste verlangt. Und es hätte ihn nicht weiter bekümmert, wenn wir die Kinder einfach mitgenommen hätten. Ich denke, er wird sich noch als recht interessanter Charakter entpuppen.«
Dass Matilda mit ihren Worten Recht hatte, zeigte sich bereits am nächsten Morgen. Alle Kinder schliefen noch fest, als Matilda und Giles um acht Uhr im Haus des Doktors ankamen. Nur Sidney sprang ihnen aufgeregt entgegen, sobald sie durch die Tür traten.
»Ich hatte Angst, dass ihr nicht zurückkommen würdet.« Seine bernsteinfarbenen Augen hellten sich vor Erleichterung auf, Matilda wiederzusehen.
»Ich hatte doch gesagt, dass wir heute wiederkommen«, erwiderte sie vorwurfsvoll und strich ihm über den rasierten Kopf. »Ich werde euch auch bis nach New Jersey begleiten. Nun, waren alle Kinder in der Nacht brav?«
»Ruth hat in die Hose gemacht«, berichtete er und zeigte auf ein sehr kleines Mädchen, das noch fest schlief. »Das hat sie in Rat’s Castle auch immer getan, und deshalb wollte nie jemand bei ihr schlafen.«
»Sie ist noch sehr klein, Sidney«, erinnerte Matilda ihn. Keiner hatte ihr über dieses Kind etwas erzählen können, nicht einmal seinen Namen. Sie vermuteten, sie musste etwa zwei Jahre alt sein, und Dr. Kupicha hatte ihr am Vorabend einen Namen gegeben. Es war schön, dass Sidney ihn auch benutzte. Er schien tatsächlich ein gewisses Verantwortungsgefühl für die Kinder entwickelt zu haben.
»Aber die anderen habe ich dazu gebracht, den Nachttopf zu benutzen«, fuhr er stolz fort. »Siehst du, ich habe die Aufsicht übernommen!«
»Dann weckst du die
Weitere Kostenlose Bücher