Lesley Pearse
doch hier auf dem Fluss, wo der Wind sanft die Strähnen ihres blonden Haares umspielte, war sie einfach perfekt. Giles hatte selten so einen sinnlichen, vollen Mund gesehen. Ihre Nase war an der Spitze leicht nach oben gewölbt, und ihre Wangen waren voll und rosig. Der Gedanke machte ihn traurig, dass sie wahrscheinlich einen Mann aus der Arbeiterklasse heiraten müsste. Ihre Schönheit würde sich durch harte Arbeit und Geburten verlieren, und ihr scharfer Verstand würde durch fehlende Anregung verkümmern. Denn so lieblich sie auch aussah und obwohl sie gelernt hatte, sich wie eine Dame zu verhalten und zu sprechen, war etwas in ihrer direkten Art und ihrem scharfen Verstand, das ihre Herkunft verriet. Und kein Gentleman von Stand würde es in Betracht ziehen, ein solches Mädchen zu heiraten, unabhängig davon, wie sehr er sie begehren mochte.
Giles fühlte eine Woge der Zärtlichkeit für Matilda in sich aufsteigen. Sie hatte so viele Gaben – Intelligenz, Leidenschaft, Humor und Mut. Er wusste auch, dass sie die Waisen heute nicht hatte allein lassen wollen, und die Kinder hätten sie ebenfalls gern bei sich behalten. Ihre Geduld und ihre Fähigkeit, ein Kind zu trösten, während sie die anderen Kinder wachsam im Blick behielt, hatten Giles überrascht. Sie konnte frohen Mutes den Schmutz der Kinder beseitigen, der ihn selbst hatte blass werden lassen, und dem Schuldigen dennoch sanft erklären, dass es in Zukunft so etwas nicht noch einmal geben durfte. Eigentlich müsste ich heute Abend direkt zu Darius Kirkbright gehen und ihm vorschlagen, Matilda zur Heimmutter zu ernennen, dachte Giles, aber er wusste, dass er selbst, genau wie Lily und Tabitha, inzwischen zu sehr auf sie angewiesen war, um sie gehen lassen zu können.
Am folgenden Nachmittag saß Lily Milson nähend in der Küche und beobachtete Matilda aus dem Augenwinkel. Oberflächlich betrachtet, verhielt sich das Mädchen ganz normal, wie es mit dem Brotteig beschäftigt war und sich hin und wieder zu Tabitha hinabbeugte, um ihr zu zeigen, wie man kleinere Portionen ordentlich durchknetete. Doch Lily spürte, dass Matilda nicht recht sie selbst war. Sie lachte nicht wie sonst und sprach mit unterdrückter Stimme. Lily vermutete, dass Matilda an die Kinder dachte, die sie zum ›Trinity-Haus für heimatlose Kinder‹ begleitet hatte.
Lily erinnerte sich daran, wie emotional sie selbst in Matildas Alter auf Kinder reagiert hatte und wie sehr sie den Tag herbeigesehnt hatte, an dem sie ihr eigenes Kind in den Armen halten würde. Auch stand ihr noch klar vor Augen, wie verzweifelt sie in den folgenden Jahren gewesen war, als sich kein Mann für sie interessiert hatte.
Vielleicht beschäftigt Matilda diese Vorstellung, überlegte sie. Möglicherweise hatten die jüngsten Ereignisse sie daran erinnert, dass es keinen jungen Mann gab, der sie liebte. War ihr plötzlich der Gedanke gekommen, dass sie ihr Leben vielleicht nur für die Kinder anderer Menschen würde leben müssen und sie selbst unter Umständen nie Liebe finden oder ein eigenes Heim haben würde?
Plötzlich fühlte sich Lily schuldig, dass Giles und sie sich so sehr auf Matilda stützten. Sie hatte ihre Familie verlassen, um sie nach Amerika zu begleiten, und sie hatte keine Gelegenheit, Freunde in ihrem Alter zu finden. Wahrscheinlich war sie sehr einsam.
»Warum gehst du heute Abend nicht zum Tanz, den die Kirche veranstaltet?«, schlug Lily impulsiv vor.
Matilda schaute überrascht von ihrem Brotteig auf und wischte sich mit der mehlbestäubten Hand eine Strähne aus dem Gesicht. »Ich kann doch nicht allein gehen!«
»Du könntest mit der Bediensteten von Mrs. Arkwright gehen«, meinte Lily. »Die junge Italienerin, die du in der Bibelstunde kennen gelernt hast.«
»Ich glaube nicht, dass ihre Herrin es erlauben wird«, wandte Matilda ein.
»Das wird sie sicher, wenn ich sie darum bitte«, antwortete Lily. »Ich könnte einen kurzen Spaziergang zu ihrem Haus machen. Sie hat mich schon öfter gebeten, sie einmal zu besuchen. Warum sollte ich also nicht heute bei ihr vorbeischauen?«
Matilda lächelte. Sie hatte nicht unbedingt Lust, tanzen zu gehen, aber es würde schön sein, Rosa wiederzusehen, da sie die letzte Bibelstunde verpasst hatte. »Nun ja, wenn Sie sicher sind, dass Sie mich nicht brauchen werden«, gab sie nach, und die aufkommende Aufregung ließ ihre frühere Bedrückung verfliegen und ihre Stimme fröhlicher klingen. »Und es macht Ihnen nichts aus, Mrs.
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