Lesley Pearse
das wichtig?«
Matilda zuckte die Schultern. »Weil ich ein hartes Leben hatte, als ich noch ein kleines Mädchen war. Mir erging es erst besser, als ich ihn traf«, berichtete sie und zeigte auf Giles, der ein paar Meter entfernt stand und sie beobachtete. »Er hat mich von der Straße weggeholt und mich mit zu sich nach Hause genommen, um auf seine kleine Tochter aufzupassen. Jetzt möchten wir, dass es auch euch besser geht.«
Sidneys angespannter Gesichtsausdruck löste sich ein wenig, aber er musste eindeutig noch weiter überzeugt werden.
»Reverend Milson ist der beste, freundlichste Mann, den ich je getroffen habe. Glaub mir, du kannst ihm vertrauen. Er arbeitet seit einiger Zeit daran, das Heim für euch fertig zu stellen. Dies ist die beste Chance, die euch in eurem Leben jemals geboten werden wird.«
Wieder antwortete Sidney nicht, sondern umklammerte nervös den Lumpen, den er sich um die Schultern gewickelt hatte. »Ja, aber er wird nicht an dem Ort leben, wo ihr uns hinbringt«, gab er zurück. »Und du auch nicht!«
Plötzlich ging Matilda auf, dass Sidney jemanden um Rat gefragt haben musste, vielleicht sogar einen Erwachsenen. Jemand hatte ihm ganz offenbar den Kopf mit hässlichen Vorstellungen gefüllt, was die Fremden ihm antun könnten. Da erinnerte sie sich wieder an den Tag, als Mr. und Mrs. Milson das erste Mal in ihrem Wohnzimmer mit ihr gesprochen hatten und sie plötzlich diese Ängste gehabt hatte, man würde sie als weiße Sklavin verkaufen. Sidney wusste noch viel weniger über Giles und sie, als Matilda damals über die Milsons gewusst hatte. Seine Vorsicht war durchaus begründet.
»Reverend Milson wird euch sehr oft besuchen«, versprach sie. »Und es wird dort kein böser Mensch arbeiten, da der Reverend die Leute ausgewählt hat, die sich um euch kümmern werden. Selbst wenn du jetzt fürchterliche Angst hast und misstrauisch bist, Sidney, benutze einmal deinen Kopf. Was könnte denn schlimmer sein als das Leben, das ihr im Augenblick führt?«
Der strenge Ausdruck verschwand aus Sidneys Gesicht, und plötzlich sah Matilda nur noch einen verwirrten kleinen Jungen. Er hatte die Rolle des Führers der Gruppe auf sich genommen, aber war für eine solche Verantwortung viel zu jung. Ohne nachzudenken, ging Matilda auf ihn zu und zog ihn an sich, genauso wie sie es so oft mit ihren Brüdern getan hatte.
»Sidney, dies ist ein böser Ort«, erklärte sie sanft und hielt ihn ganz fest. »Der Rest der Welt sieht aber anders aus. Vertrau mir einfach, und ich zeige dir und deinen Freunden ein besseres Leben.«
Sein Haar war voller Läuse, aber sie wandte den Blick ab. Mit einer Hand hob sie sein Kinn an und schaute ihm tief in die Augen. Sein Gesicht war so verschmutzt, dass schwer zu erkennen war, was unter der Schmutzschicht lag. Seine Augen jedoch waren bernsteinfarben und wunderschön. »Vertrau mir, Sidney!«, bat sie ihn.
Er legte den Kopf an ihre Brust, und sie wusste, dass er weinte. »Ich brauche deine Hilfe mit den Kleinen, damit sie sich so schnell wie möglich an das neue Leben gewöhnen«, sagte sie. Sie war sich bewusst, dass er seine Führungsrolle nicht verlieren durfte. »Du musst jetzt gehen und sie holen. Erklär ihnen, dass sie sich vor nichts zu fürchten brauchen. Sehr bald werdet ihr alle gemeinsam an einem Tisch sitzen und die beste Suppe essen, die man euch je vorgesetzt hat.«
Sidney löste sich von ihr, drehte sich um und rannte ohne ein weiteres Wort davon.
Matilda schaute überrascht und ratlos zu Giles hinüber. »Ich habe wohl etwas Falsches gesagt«, murmelte sie und spürte, wie ihr die Tränen kamen.
»Lass uns noch etwas warten«, entschied er, kam auf sie zu und tätschelte ihr besänftigend die Schulter. »Es sah für mich nicht so aus, als hättest du ihn erschreckt oder verjagt.«
Sie warteten und warteten. Dann – als sie schon völlig entmutigt waren – tauchte Sidney wieder auf, gefolgt von der kleinen Schar Kinder. Matilda und Giles waren beide nicht auf einen solch traurigen Anblick vorbereitet gewesen. Bislang hatten sie die Waisen nur im Halbdunkel gesehen und das gesamte Ausmaß ihres körperlichen Zustandes nur ahnen können. Sie waren fast nackt, und das lange Haar hing ihnen verfilzt über die Schultern. Ihre Beine waren so dürr, dass man sich kaum vorstellen konnte, wie sie das Gewicht der Kinder tragen konnten. Die hohlwangigen Gesichter waren von Angst und Hunger gezeichnet.
»Lasset die Kinder zu mir kommen«, flüsterte
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