Letale Dosis
alles angetan hat. Es ist für mich einfach unverständlich.«
»Glauben Sie denn an dieses ewige Leben?« fragte Julia Durant.
Vivienne Schönau drehte sich um, lächelte verlegen, sagte: »Ich glaube an ein Leben nach dem Tod. Aber ob dieses Leben ewig ist?« Sie zuckte die Schultern, ihre Augen hatten einen traurigen Ausdruck. »Ja, ich habe an ein ewiges Leben geglaubt, an eine ewige Familie, doch jetzt weiß ich überhaupt nichts mehr. Seit gestern abend ist in meinem Kopf ein großes Karussell. Ich habe so viele Jahre gespürt, daß zwischen meinem Mann und mir etwas nicht stimmt, aber ich habe es immer verdrängt. Kennen Sie das? Man verdrängt, weil man der Wahrheit nicht ins Gesicht sehen will. Man will nicht sehen, wie die Wahrheit wirklich aussieht. Und jetzt ist es zu spät. Ich hätte mit ihm reden müssen, ihn fragen sollen, was ich falsch gemacht habe. Ich habe es nicht getan, und das ist die Strafe dafür.«
»Was ist die Strafe?« fragte die Kommissarin.
»Er ist tot, und ich werde nicht mehr mit ihm reden können. Ich werde ihn nicht mehr fragen können, was falsch gelaufen ist, ob er in beruflichen Schwierigkeiten gesteckt hat, ob es ein Geheimnis gab, das ihn bedrückte, über das er mit mir aber nicht sprechen wollte. Ein Geheimnis, das Rosenzweig und mein Mann miteinander teilten … Ich glaube zumindest, daß es so war. Sie hatten ein Geheimnis, doch sie behielten es für sich. Und es muß ein Geheimnis gewesen sein, das so schrecklich war, daß sie dafür von jemandem umgebracht wurden. Nur von wem?« fragte sie und löste sich vom Fenster und ging zu ihrem Sessel. Sie zog die Beine neben sich auf den Sessel und sah Julia Durant an, als forschte sie in ihrem Gesicht nach einer Regung.
»Und Sie können sich überhaupt nicht vorstellen, was für ein Geheimnisdas gewesen sein könnte? Sie waren über zwanzig Jahre mit Ihrem Mann zusammen, hat es da nie etwas gegeben, worüber Sie sich gewundert haben? Ich meine, eine wirklich außergewöhnliche Situation? Vielleicht eine Frau, die ein Kind von ihm erwartete, eine ungewöhnliche geschäftliche Angelegenheit, oder etwas anderes? Zum Beispiel bereitet mir dieses eine Wort Kummer, Sie wissen, wovon ich spreche?«
Vivienne Schönau schüttelte den Kopf. »Sie meinen das mit den Kindern. Nein, nichts derartiges. Ich sagte doch, es muß so geheim gewesen sein … geheimer als geheim. Und nur er und Rosenzweig wußten davon.«
»Vielleicht noch jemand«, sagte Julia Durant, neigte den Kopf ein wenig zur Seite und wartete auf die Reaktion von Frau Schönau.
»Was meinen Sie?«
»Nun, Ihr Mann und Rosenzweig waren beide Berater des Regionshirten. Was, wenn er als nächstes Opfer ausgesucht wurde?«
»Warum sollte jemand … Augenblick, gibt es irgendwelche Hinweise dafür? Bruder Fink ist völlig integer.«
»Können Sie mir etwas über ihn sagen? Über seine Familie?«
Vivienne Schönau kniff die Lippen zusammen, überlegte. »Ich weiß nicht, aber ich glaube, ich bin dazu nicht berechtigt … Ich meine, Bruder Fink, wir kennen uns schon sehr lange … Vor allem seine Frau und ich, wir sind fast so etwas wie Freundinnen … Na ja, Freundinnen ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck, wir sind eher gute Bekannte. Ich kann nicht einfach über sie oder ihren Mann reden.«
»Frau Schönau, ich zweifle die Integrität von Herrn Fink in keiner Weise an, aber ich möchte einfach auf Nummer sicher gehen, daß er nicht das nächste Opfer wird. Wenn es stimmt, was ich vermute, daß nämlich der Mörder nach Plan vorgeht und die ersten beiden Morde nur der Anfang einer Serie waren, dann könnteFink als nächstes an die Reihe kommen … Sie würden mir sehr helfen.«
»Gut, wenn Sie es so sagen.« Sie veränderte ihre Haltung ein wenig, griff nach dem Glas, trank einen Schluck. Sie behielt es in der Hand, drehte es zwischen den Fingern, starrte hinein.
»Ich kenne die Finks schon, seit ich in Deutschland bin. Sie waren die erste Familie, mit der ich engeren Kontakt hatte. Ich habe ihre Kinder groß werden sehen, vor allem Laura, die ich sehr mag. Sie ist eine wunderbare junge Frau. Sie ist so völlig anders, ich habe noch nie jemanden getroffen, der auf eine so natürliche Weise an Gott glaubt, wie Laura es tut. Sie ist einfach ein ehrlicher Mensch.« Sie machte eine Pause, sah auf, ihr Blick ging an Durant vorbei ins Leere.
»Und Frau Fink, die Mutter von Laura?«
»Sie ist eher unscheinbar. Wenn Sie sie sehen, würden Sie nie vermuten, daß sie
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