Letale Dosis
trifft keine Schuld. Du hast Dein Bestes versucht und auch gegeben. Wir werden uns wiedersehen, in einer besseren Welt. Ich glaube fest daran.
Sie hielt den Brief in Händen, reichte ihn wortlos Hellmer. Sie zündete sich eine Gauloise an, inhalierte, blies den Rauch aus dem offenstehenden Fenster, vor dem sich der kleine Balkon befand, von dem Jürgen Fink in den Tod gesprungen war. Als Hellmer zu Ende gelesen hatte, gab er den Brief Laura Fink. Während des Lesens begannen ihre Hände zu zittern, sie setzte sich auf die Couch. Sie schluchzte ein paarmal laut auf, Tränen liefen in Bächen über ihr Gesicht. Julia Durant drehte sich um, sah die junge Ärztin an.
»Was hat es mit dem Bären auf sich? Und warum spendet er sein Erbe ausgerechnet dieser Organisation?«
»Der Bär«, sagte Laura Fink mit tränenerstickter Stimme, »hat eine sehr persönliche Bedeutung, etwas, das nur Jürgen und mich etwas angeht. Und warum er sein Erbe dieser Organisation vermacht«, sie sah Durant ratlos aus verheulten Augen an, »ich weiß es nicht.«
»Okay, dann frage ich andersrum. Ist Ihr Bruder jemals sexuell mißbraucht worden?«
Laura Fink schüttelte energisch den Kopf. »Nein, das wüßte ich. Wenn Jürgen überhaupt irgend jemandem bedingungslos vertraut hat, dann mir. Er hat mir immer alles erzählt. Jürgen ist nicht sexuell mißbraucht worden. Wahrscheinlich wußte er einfach nicht, wem er das Geld sonst vermachen sollte.«
»Und Ihr Vater; was glauben Sie, was er am Freitagabend hier gemacht hat? Ihr Bruder schreibt von Drohungen. Waren solche Drohungen an der Tagesordnung? Und wie sahen sie aus?«
»Ich weiß nichts von Drohungen …«
»Ich denke, Ihr Bruder hat über alles mit Ihnen gesprochen?!« fragte die Kommissarin scharf und setzte sich ebenfalls. »Und wenn ich die Worte in dem Brief richtig deute, dann hat Ihr Vater ihm nicht nur einmal gedroht, sondern das scheint zu einer Regelmäßigkeit geworden zu sein. Oder habe ich da etwas falsch verstanden?«
»Du meine Güte, ich weiß es nicht!« schrie Laura Fink aufgebracht. »Fragen Sie doch meinen Vater, ob er Jürgen gedroht hat! Fragen Sie
ihn
! Fragen Sie ihn, warum Jürgen so plötzlich den Entschluß gefaßt hat, nicht mehr leben zu wollen! Wenn er von unserem Vater schreibt, dann kennt
der
die Antwort und nicht ich!«
»Frau Fink, Ihr Bruder ist tot, er hat sich das Leben genommen, weil er nicht mehr weiter wußte. Jetzt sagen Sie mir erst, wenn er überhaupt jemandem alles anvertraut hat, dann Ihnen, dann wieder behaupten Sie, angeblich nichts von den Drohungen Ihres Vaters zu wissen. Das ist ein Widerspruch in sich.«
»Frau Durant, ich hatte in den letzten zwölf Monaten nur noch sehr wenig Kontakt zu Jürgen, das habe ich Ihnen bereits vor ein paar Tagen gesagt. Das letzte Mal, daß wir uns gesehen haben, war vor etwa vier Wochen, als ich ihn besucht und ihn ziemlich betrunken angetroffen habe. Ich gab ihm Geld, weil er nichts mehr hatte, auch wenn ich wußte, daß er dieses Geld für Alkohol ausgeben würde …«
»Warum haben Sie ihn nicht in eine Klinik eingewiesen? Sie hätten doch die Möglichkeit dazu gehabt.«
»Diese Möglichkeit habe ich nur, wenn eine akute Selbstgefährdung oder die Gefährdung anderer Personen besteht. Das war aber zu keiner Zeit der Fall. Ich kann als Ärztin nicht einfach einen Betrunkenen zum Entzug schicken, solange er noch einigermaßen klar denken kann. Und Jürgen konnte noch klar denken. Es gibt da feine und doch sehr deutliche Unterschiede. Hätte er sich zum Beispiel in einem komatösen Zustand befunden, als ich ihn besucht habe, wäre ich berechtigt gewesen, ihn einzuweisen. Hätte er mit Selbstmord gedroht, oder damit, jemand anderem etwas anzutun, wäre ich berechtigt gewesen, ihn einzuweisen. Doch solange er
nur
betrunken ist, sind mir die Hände gebunden.«
»Hat er jemals Ihnen gegenüber von Selbstmord gesprochen?«
»Jeder spricht irgendwann in seinem Leben einmal davon, am liebsten tot zu sein. Kennen Sie das nicht? Aber Jürgen hat nie einen Hinweis gegeben, daß er vorhatte, sich das Leben zu nehmen. Ich kann mir nur eines vorstellen – sein körperlicher Zustand hat ihm Sorgen bereitet. Er war schon als kleines Kind hypochondrisch veranlagt, und als ich ihm seine letzten Laborwerte vorgelesen und ihm gesagt habe, wenn er nicht umgehend seinen Lebenswandel änderte, wäre es nur eine Frage der Zeit, bis … Wissen Sie, es ist ja egal, ob ich es Ihnen sage oder nicht, jedenfalls lag
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