Letale Dosis
während sie die Zigarette hielt. Die andere, etwas ältere, machte einen lethargischen Eindruck. Laura Fink hielt sich etwas abseits, verfolgte aber das Gespräch aufmerksam.
»Guten Tag, mein Name ist Julia Durant von der Kriminalpolizei, das ist mein Kollege Hellmer. Uns wurde gesagt, Sie hätten gesehen, wie der Mann gesprungen ist. Können Sie uns ein paar genauere Angaben machen?«
Die jüngere der beiden sagte, nachdem sie einen Zug an der Zigarettegenommen und den Rauch durch die Nase ausgeblasen hatte: »Wir waren gerade auf dem Weg zum Bus und haben uns unterhalten. Da haben wir einen Schrei und kurz darauf den Aufprall gehört. Er ist keine fünf Meter von uns aufgeschlagen.«
»Nur einen Schrei und den Aufprall? Er hat nicht vorher auf dem Geländer gestanden und irgend etwas gesagt?«
»Nein, er ist einfach gesprungen. Mein Gott, es war furchtbar«, sagte sie aufgeregt.
»Kannten Sie den jungen Mann?«
»Nein, nur vom Sehen. Wir wohnen im Haus Nummer vierzehn, und hier kennt sowieso kaum einer den andern. Sie wissen schon, Anonymität ist alles«, sagte sie verächtlich. »Es ist eine Scheißgegend, und ich wünsche mir nichts sehnlicher, als endlich von hier wegzukommen. Jetzt erst recht. Manchmal habe ich das Gefühl, die Leute hier sind alle irgendwie durchgeknallt. Aber das ist ja auch kein Wunder, irgendwann muß jeder, der hier wohnt, einen Koller kriegen.«
»Danke, das war’s schon. Wir wollen Sie nicht länger aufhalten.«
Julia Durant sah Hellmer und Laura Fink an, sagte: »Kommt, fahren wir hoch und sehen wir uns seine Wohnung an. Macht euch aber drauf gefaßt, daß es nicht sehr ordentlich aussieht.«
»Ich habe schon des öfteren Müllhalden durchsucht. Mich kann so schnell nichts erschüttern«, erwiderte Hellmer grinsend.
Sie fuhren mit dem Aufzug in den achten Stock. Vor der Wohnung von Jürgen Fink war ein Beamter postiert, der sie wortlos passieren ließ, nachdem Durant ihren Ausweis gezeigt hatte. In dem kleinen, engen Flur roch es nach Parfüm, der Boden war, im Gegensatz zu Freitag, gesaugt, Julia Durant warf einen fragenden Blick nach hinten zu Hellmer, zuckte die Schultern. Sie ging vor ihm und Laura Fink ins Wohnzimmer, das aufgeräumt war, keine leeren Flaschen, keine Dosen auf dem Fußboden, auch hier wirkte alles sauber und wohnlich. Sie blieben in der Mitte desZimmers stehen, schwiegen einen Moment, schließlich sagte Durant zu Hellmer: »Komisch, er hat vor seinem Tod noch einmal gründlich saubergemacht. Du hättest mal am Freitag hier sein müssen … Ich fasse es nicht.«
»Es gibt Dinge, die können wir nicht begreifen«, sagte Hellmer.
»Wahrscheinlich hatte er seinen Tod geplant, er wollte aber, daß, wer immer seine Wohnung betritt, sich diese in einem übergabegerechten Zustand – mein Gott, wie sich das anhört! – befindet. Und du sagst, er war Alkoholiker?«
»Frag seine Schwester …«
»Es stimmt, Jürgen war Alkoholiker«, sagte sie mit bedrückter Stimme, ein paar Tränen lösten sich aus ihren Augenwinkeln. »Aber im Prinzip war er auch wieder keiner. Zumindest haben gewisse Faktoren eine Rolle gespielt, die ihn zu einem Trinker werden ließen. Es war wohl die einzige Möglichkeit für ihn, dieser ungerechten Welt zu entfliehen.« Sie stockte, machte eine Pause, ließ ihren Blick durch das Zimmer schweifen, mit einem Mal zuckte ein undefinierbares Lächeln über ihren Mund. An diesem Vormittag wirkte sie richtig hübsch, eine attraktive, junge Frau, nicht mehr androgyn und unnahbar wie die Tage zuvor, sondern sehr feminin und schutzbedürftig. »Das Leben hat es nicht gut mit ihm gemeint, dabei war er der schwächste von uns allen. Aber so ist das nun mal, die Schwächsten müssen immer zuerst dran glauben, obwohl eigentlich sie die meiste Unterstützung verdient hätten. Diese Welt ist nicht gerecht. Sie haben seine Schwächen gnadenlos ausgenutzt.«
»Wer? Ihr Vater, Ihr Bruder …?«
»Eigentlich jeder. Nicht einmal ich möchte mich völlig davon ausschließen, obgleich ich behaupten möchte, die einzige gewesen zu sein, die sich in den letzten fünf oder sechs Jahren um ihn gekümmert hat. Das soll jetzt um Himmels willen kein Eigenlob sein; es ist nur so, er ist dann und wann zu mir gekommen, hat mich um Hilfe gebeten, und wie kann ich meinem eigenen BruderHilfe verwehren, wenn es mir selbst doch so gut geht?« Sie schaute zur Seite, holte ein Taschentuch aus ihrer Handtasche, wischte sich damit über die Augen und schneuzte sich
Weitere Kostenlose Bücher