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Letale Dosis

Letale Dosis

Titel: Letale Dosis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Franz
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Papierkorb, schüttete das Wasser in den Ausguß, füllte frisches nach. Sie stellte die mitgebrachten Blumen in die Vase, zupfte sie ein wenigzurecht. Die Frau nahm es nicht wahr, ihre Gedanken, wenn sie denn welche hatte, waren weit weg, auf jeden Fall längst nicht mehr in dieser Welt.
    Korsakow-Syndrom, hatten die Ärzte vor knapp vier Jahren gesagt; irreversibel, wie sie noch hinzugefügt hatten. Korsakow-Syndrom aufgrund von jahrelangem Alkohol- und Tablettenmißbrauch, das sich erst in Störungen des Kurzzeitgedächtnisses zeigte, schließlich das ganze Gedächtnis befiel und es einfach auslöschte. Die Ärzte sagten, es gäbe nur äußerst selten derart schwere Fälle von Korsakow, doch ihr Fall zählte zu den schwersten. Kurz nachdem die Diagnose feststand, kam noch ein Schlaganfall dazu, den sie nur knapp überlebte. Sie hatten eine Computertomographie ihres Gehirns gemacht, die eindeutig zeigte, daß große und vor allem wesentliche Teile abgestorben waren. Das Korsakow-Syndrom hätte unter Umständen geheilt werden können, wäre ihr Zustand rechtzeitig erkannt und behandelt worden. Doch die Krankheit hatte schleichend und für andere kaum sichtbar begonnen, und als sie hier eingeliefert wurde, war es bereits zu spät. Das Gehirn war derart in Mitleidenschaft gezogen, daß die Ärzte eine Heilung völlig ausschlossen, obgleich sie anfangs die Hoffnung hatten, daß wenigstens ein Teil ihres Gedächtnisses zurückkehren würde, wenigstens der Teil, der ihre Kindheit und ihre Jugend gespeichert hatte. Sie konnte nicht mehr sprechen, nicht mehr allein essen. Sie agierte nicht mehr, und sie reagierte nicht mehr. Sie lächelte nicht, sie weinte nicht. Es war, als wären sämtliche Gefühle und Regungen abgestorben. Und doch glaubte die Besucherin, daß die Frau immer noch Gefühle und Regungen hatte, doch die schienen so tief vergraben zu sein, und der Weg dorthin mit so vielen Fallen verstellt, daß es unmöglich war, jemals wieder zu ihrem Kern, ihrem Innersten vorzudringen. Sie wußte nicht, ob die Frau Schmerzen fühlte, wenn ihr etwas weh tat, ob sie merkte, wenn sie ihre Blase oder ihren Darm in die Windel entleerte. Sie wußte eigentlichnicht viel von dieser Frau, das meiste aus Briefen und Fotos, die sie gefunden hatte, einiges aus Erzählungen der Ärzte und Pfleger. Sie wußte nur, daß diese Frau, diese versteinerte Mumie am Fenster, vor vielen Jahren angefangen hatte zu trinken, und als der Alkohol allein nicht mehr genügte, auch noch Tabletten schluckte, immer mehr und immer mehr, bis eines Tages ihr Gehirn diese Tortur nicht mehr ertrug und einfach erschöpft seine Arbeit einstellte.
    Als sie die Frau zum ersten Mal sah, erschrak sie. Sie hatte sie so lange gesucht, und als sie sie endlich gefunden hatte, war es ein Schock. Sie hatte sie gefunden, doch sie hatte sich diese erste Begegnung anders vorgestellt.
    Sie kam jeden Sonntag nachmittag, manchmal auch mittwochs oder donnerstags abends, und jedesmal brachte sie Blumen mit, um der Tristesse des Zimmers ein wenig Farbe zu verleihen. Wenn diese Frau schon vor sich hin vegetierte, dann sollte dies in einer wenigstens einigermaßen angenehmen Umgebung sein.
    Sie zog einen Stuhl heran, setzte sich direkt neben die regungslose Gestalt. Sie legte eine Hand auf das welke, von dicken, blauen Adern durchzogene Pergament der andern, streichelte sie, blickte ihr in die Augen, ohne daß dieser Blick erwidert wurde. Die ersten Monate waren schlimm gewesen, sie mußte jedesmal weinen, wenn sie diese Frau, diese sonderbare und doch liebenswerte Kreatur sah, die, einst schön und aufregend, jetzt fahl und leblos war. Sie weinte hier und sie weinte während der Heimfahrt, sie weinte zu Hause. Doch irgendwann hörte das Weinen auf, wußte sie, daß das Weinen keinen Sinn hatte, daß die andere es nicht merkte, daß kein Laut und keine tröstenden Worte über ihre ausgetrockneten, farblosen Lippen kamen. Anfangs hatte sie mit den Ärzten gesprochen, sich Literatur über diese Krankheit besorgt, hatte nach neuen Therapieformen gesucht, doch alles war umsonst. Es gab keine Heilung. Ein totes Hirn blieb tot und konnte nicht mehr zum Leben erweckt werden.
    Sie blieb wie immer zwei Stunden, warf einen Blick zur Uhr, Viertel nach vier. Sie streichelte noch einmal über das graue Haar der noch nicht einmal dreiundfünfzig Jahre alten Frau, über ihr Gesicht, ihre Hände. Sie sagte leise und aufmunternd, als würde die andere ihre Worte verstehen: »Tschüs, mach’s

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