Letale Dosis
vornehm die Nase. »Nein, was mit ihm passiert ist, ist nicht gerecht. Aber was ist schon Gerechtigkeit? Ich glaube, die Menschen haben diesen Begriff aus ihrem Wortschatz und ihren Eigenschaften gestrichen. Gerechtigkeit ist kein feststehender Begriff mehr, jeder handelt nur noch nach seinem eigenen Gutdünken. Was der einzelne glaubt, allein das zählt. Es tut mir leid, aber ich fühle mich einfach – beschissen.«
»Können wir Ihnen irgendwie helfen?« fragte Julia Durant und legte einen Arm um die junge Frau. Sie schüttelte den Kopf, löste sich sofort aus der Umarmung, als wäre es ihr unangenehm. »Nein, ich glaube, es gibt niemanden, der mir helfen kann. Jürgen war auf sich allein gestellt, und ich bin es auch.«
Julia Durant ging langsam durch das Zimmer; selbst die Flecken an der Wand hatte er beseitigt. Er hatte gesaugt, staubgewischt, Wäsche gewaschen, die über einem Ständer im Bad hing, das ebenfalls blitzte und in dem es frisch duftete. Das gleiche Bild in der Küche und in dem kleinen Schlafzimmer. Sogar die Fenster hatte er geputzt.
»Ich muß gerade an gestern denken«, sagte Durant. »Ich habe den ganzen Tag damit zugebracht, meine Wohnung auf Vordermann zu bringen. Wahrscheinlich haben er und ich zur gleichen Zeit geputzt. Nur, daß er jetzt tot ist und uns nichts hinterlassen hat als diesen Brief.« Sie nahm den Brief vom Tisch, auf dem nur ›An Kommissarin Julia Durant persönlich‹ stand, riß den Umschlag auf, holte das Schreiben heraus. Sie las:
Liebe Frau Durant,
ich möchte mich noch einmal bei Ihnen bedanken, daß Sie am Freitag bei mir waren, um mir zuzuhören. Ich weiß, ich habe Sie nicht sehr fair behandelt, und ich möchte mich für diesesVerhalten in aller Form entschuldigen. Entschuldigen möchte ich mich aber auch dafür, daß ich Ihnen nicht konkret auf Ihre Fragen geantwortet habe, vor allem was meine Familie betrifft. Und auch jetzt möchte ich weder zu meinem Vater noch zu irgendeinem andern Mitglied der Familie Stellung beziehen; nennen Sie es von mir aus Feigheit.
Ich weiß nicht, ob das Leben mich ungerecht behandelt hat oder ob ich einfach nicht geschaffen bin für diese Welt voller Hyänen und Wölfe. Ich weiß nicht, wie meine Zukunft ausgesehen haben könnte, obgleich ich vor Jahren einmal eine Vorstellung davon hatte. Doch es gab Menschen, die meine Vorstellung und meine Ideale zerstört haben.
Ich bitte Sie, klären Sie die Morde an Schönau und Rosenzweig auf. Wenn Sie die Augen aufmachen und in der richtigen Richtung nachforschen, werden Sie auf Details stoßen, die Sie unweigerlich zum Täter, vielleicht sollte ich aber besser sagen, zu den Tätern führen werden. Ich habe mir in meinem Leben nur eines zuschulden kommen lassen – ich war nicht stark genug. Und dafür schäme ich mich. Doch ich wäre niemals in der Lage, einen Menschen zu töten, und ich möchte auch niemals mit den Morden an Rosenzweig und Schönau in Verbindung gebracht werden.
Bevor ich diesen Brief beende, den Sie nach meinem Tod finden werden, möchte ich noch ein paar Worte an meine Schwester Laura richten. Laura, Du warst die einzige, die immer zu mir gehalten hat. Deswegen vermache ich Dir meinen kleinen Bär, dessen Bedeutung nur Du kennst. Bewahre ihn für mich auf und denk ab und zu an mich. Ich habe Dich sehr lieb.
Und an meinen Vater – ob Du es willst oder nicht, es steht mir ein Pflichtteil meines Erbes zu. Dieses Pflichtteil vermache ich der
Organisation gegen den sexuellen Mißbrauch von Kindern.
Ansonsten gibt es nichts, was ich irgend jemandem vermachenkönnte. Aber über eines sollst Du Dir gewiß sein – ich habe Dich nie gehaßt, höchstens verachtet, doch ich weiß, auch Du bist nur ein Mensch. Und noch eines will ich Dir sagen; ich habe keine Schande über die Familie gebracht, wie Du mir noch am Freitagabend gesagt hast. Den Besuch hättest Du Dir übrigens sparen können, da ich meinem Leben auch ohne Deine unmißverständlichen Drohungen freiwillig ein Ende gesetzt hätte. Aber ich weiß jetzt auch, daß Du mir nicht mehr drohen kannst, wie in all den Jahren zuvor, und ich werde meinem Schöpfer mit einem reinen Gewissen gegenübertreten, denn er wird mich wie einen Sohn behandeln. Wenn jemand Schande über die Familie gebracht hat, dann waren es andere.
Diesen Brief habe ich bei vollem Bewußtsein und mit klarem Verstand geschrieben.
Mit lieben Grüßen, vor allem an Laura, meine über alles geliebte Schwester,
Jürgen Fink
PS: Mama, Dich
Weitere Kostenlose Bücher