Letzte Ausfahrt Neckartal
überhaupt nichts bemerkt, und der Vierte glaubte vage, einen zweiten Mann in der Nähe des Opels gesehen zu haben. Allerdings konnte er sich weder an die Uhrzeit noch an andere Details erinnern. Für eine genauere Beschreibung war es seinen Worten nach zu dunkel und zu regnerisch. Jürgen Albrecht, der Nachttankwart und Fünfte auf der Liste, nahm das Telefon auch nach dem vierten Versuch, ihn zu erreichen, nicht ab. Ohne den kleinsten Ermittlungsansatz stand dem morgigen freien Tag nichts im Wege.
Früher hätte Treidler die Aussicht auf einen freien Tag erfreut. Er wäre mit Lisa an den Bodensee oder in den Schwarzwald gefahren und erst nach dem Abendessen zurückgekehrt. Doch diese Zeiten gehörten längst der Vergangenheit an. Er hatte keine Ahnung, was er mit dem morgigen Tag anfangen sollte. Er nahm sich vor, lange auszuschlafen und danach auf jeden Fall das Haus zu verlassen. Vielleicht würde er spazieren oder schwimmen gehen. Denn auf das Nichtstun folgten allzu oft die bleierne Leere und dann der Alkohol.
* * *
Frank Herzog lehnte sich zurück, verschränkte die Hände im Nacken und schlug die Beine übereinander, soweit es sein Bauch über der viel zu engen Jeans zuließ. Zufrieden betrachtete er den leeren Posteingang seines Computers und freute sich auf eine ruhige Nacht. Die winzige Digitaluhr am Bildschirmrand zeigte zweiundzwanzig Uhr dreizehn, und bisher sah alles danach aus, als ob keine Nachricht vom Bundesnachrichtendienst mehr hereinkommen würde. Er hatte sich ohnehin einiges für die Nacht vorgenommen. Im Archiv gab es ein paar neue Pornofilme – sozusagen das Abfallprodukt einer Beschlagnahmung dieser Woche –, die er durchschauen wollte. Außerdem plante er im Cologne-Computer-Treff, seinem bevorzugten Forum, diversen Möchtegern-Computerverstehern gehörig die Meinung zu sagen. Eine Aufgabe, für die er sich nicht völlig überqualifiziert fand – im Gegensatz zu seinem Job als Analytiker beim BKA .
Schon im Alter von zwölf Jahren war Frank Herzog klar geworden, dass er mehr als alle anderen von Computern verstand. Zu jener Zeit hatte er sich mit dem Commodore Amiga, dem ersten Heimcomputer, beschäftigt. Ein Bildschirm hatte damals noch fast die Abmessungen von Vaters Röhrenfernseher im Wohnzimmer besessen, und das Kassettenlaufwerk vermochte nicht einmal Musik abzuspielen. Dennoch hatten die Spiele ihm stundenlangen Spaß bereitet. Hunderte Male hatte er die stinkenden grauen Kisten auf- und wieder zugeschraubt. Bald kannte er die Geräte in- und auswendig, konnte sie reparieren und hatte schließlich auch die eine oder andere Leistungssteigerung aus den Maschinen herausgekitzelt.
Diese Art der Beschäftigung gehörte lange der Vergangenheit an, und im Grunde interessierte Herzog sich nicht mehr für Heimcomputer. Lötkolben und Schraubenzieher waren schon während des Informatikstudiums der Fachliteratur gewichen. Aus der Uni war er bald ausgestiegen, doch inzwischen kannte er alles, was es in der Computer-Hardware-Welt gab. Herzog begriff die Funktionsweise von Computern wie eine Eingebung. Er wusste um die Vor- und Nachteile von Prozessoren und Controllern, konnte deren Leistungsspektrum auswendig hersagen und am Geräusch des Lesekopfes einer Festplatte den Hersteller erkennen. Heute hasste er nichts mehr als all die User, die in seinem Forum mit Fragen zu irgendwelchen dämlichen Computerspielen nervten.
Analytiker – welch hochtrabende Bezeichnung für seine Tätigkeit beim BKA . Herzogs Analyse bestand hauptsächlich aus dem Vergleich von Breiten- und Längengraden, die als Koordinaten eine Position im geodätischen System ergaben. Zugegebenermaßen ging es dabei manchmal um ziemlich winzige Abweichungen von fünfzig Metern, die erst aus der vierten Kommastelle nach der Gradzahl hervorgingen.
Wer hätte früher gedacht, dass er, der dickliche und pickelgesichtige Commodore-Amiga-Freak, eine von fünf Auswertungsstellen des BKA für das Echelon-System des Bundesnachrichtendienstes bekleiden würde? Zumal sich niemand in Deutschland etwas unter dieser Technologie vorstellen konnte. Dennoch existierte sie – in Bad Aibling, in der südlichsten Ecke Bayerns. Auf freiem Feld stand dort eine Formation von einem Dutzend kugelrunder Radarkuppeln. Die offizielle Bezeichnung der amerikanischen Armee lautete »18th United States Army Security Agency Field«. Im Sprachgebrauch der NATO hatte sich allerdings das griffigere Kürzel » BAS « für Bad Aibling Station
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