Letzte Ausfahrt Neckartal
tun.
Mit dem Taxi erreichten Treidler und Melchior einige Zeit später den Alexanderplatz. Der südliche Teil des Platzes wurde von der riesige Baustelle des neuen ›Würfels‹ dominiert. Am Eingang des Fernsehturms bildete sich bereits eine Schlange von bestimmt fünfzig Metern. Offenbar hatten die Touristen nur auf das sonnige Wetter an diesem Samstagmorgen gewartet, um ihre Stadterkundung genau hier zu beginnen.
Die Weltzeituhr und der Brunnen der Völkerfreundschaft stammten noch aus der Zeit vor der Wende. Die farbenfrohe Emaillierung um den Springbrunnen weckte nicht nur Treidlers Interesse. Eine kleine Gruppe Jugendlicher machte sich einen Spaß daraus, Papierkügelchen in eine der obersten Schalen zu werfen, über die das Wasser spiralförmig nach unten lief. Jedes Kügelchen, das sich später im Wasserbecken sammelte, wurde mit einem lauten Hallo begrüßt.
»Nuttenbrosche«, sagte Melchior neben ihm.
»Was?«
Sie zog belustigt die Augenbrauen hoch. »Nuttenbrosche – das ist der Name, den wir hier im Osten für den Brunnen hatten.«
»Nuttenbrosche?«
»Ob Sie es glauben oder nicht. Aber ganz in der Nähe war die sündigste Meile Ostberlins.«
»Die sündigste Meile? Und ich dachte noch bis vor Kurzem, dass die bei uns im Westen gelegen hat.« Treidler schlenderte in Richtung der imposanten Weltzeituhr auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes.
Die Urania-Weltzeituhr, wie das Bauwerk offiziell hieß, ragte gut und gerne zehn Meter in die Höhe. Über dem Steinmosaik einer Windrose, auf einer drei Meter hohen, baumdicken Säule, thronte ein wuchtiger Metallzylinder in Form eines Vierundzwanzigecks. Jede der vierundzwanzig Seiten entsprach einer Zeitzone.
Erst aus der Nähe konnte Treidler auf dem Metall die eingravierten Städtenamen erkennen. Sankt Petersburg, Kiew und Almaty, stand dort. Innerhalb dieses Zylinders drehte sich eine Art Farbkreis, der für jede Zeitzone die aktuelle Uhrzeit anzeigte. Über dem Zylinder kreiste ein Metallgeflecht mit unterschiedlich großen Kugeln, das das Sonnensystem mit Planeten darstellte.
»Der Bus ist da.« Melchior deutete auf die Unterführung durch die S-Bahn. »Wir müssen rüber zur Haltestelle.«
Wenig später saßen sie auf der oberen Etage des Doppeldeckerbusses der Linie 100. Dass es sich nicht um eine normale Linie der Berliner Verkehrsbetriebe handelte, verrieten schon die Fahrgäste: Jeder, aber wirklich jeder trug einen Rucksack und gab sich damit als Tourist zu erkennen. Auch die Gruppe Jugendlicher vom Brunnen hatte ein paar Reihen weiter hinten Platz gefunden und machte mit lauten Bemerkungen auf sich aufmerksam.
Nach einigen Zwischenstopps und einem längeren Aufenthalt auf der Museumsinsel legten Treidler und Melchior im Café Einstein Unter den Linden eine Pause ein. Auf den Stühlen vor dem Caféhaus sonnten sich schon etliche Gäste, und sie hatten Mühe, einen Tisch zu ergattern. Treidler und Melchior ließen sich zwei Cappuccinos servieren und saßen einander verlegen gegenüber. Um irgendetwas zu tun, lehnte sich Treidler zurück, streckte die Beine aus und musterte die Umgebung.
Jetzt um die Mittagszeit nahm der geschäftige Trubel wirklich großstädtische Ausmaße an. Hunderte, wenn nicht gar Tausende Menschen drängten in die Geschäfte oder rangen sich dick bepackt mit Touristen um einen Platz auf dem Gehweg. Dazwischen verkauften Straßenhändler Zeitungen, kitschige Souvenirs oder gar Grillwürste in mobilen Ein-Mann-Brätereien. Auch die weithin bekannten vietnamesischen Zigarettenhändler tummelten sich im Gemenge und hielten nach Kundschaft Ausschau. Abwechselnd spuckten Reise- und Linienbusse ihre Ladungen aus und sorgten so für weiteren Nachschub auf den Bürgersteigen. Ununterbrochen hasteten Menschen über die Straßen. Immer wieder sorgten sie für wütendes Gehupe und Stauungen, sobald die Blechlawine ihretwegen anhalten musste. Auch die meisten Fahrradfahrer, die Treidler sah, interessierten sich nicht für Verkehrsregeln und vergrößerten das Chaos zusätzlich.
Schweigend schaute Treidler dem Treiben eine Weile zu, ehe er sich an Melchior wandte. »Sollten wir nicht bald weiter? Das war schon der dritte Bus.«
Sie nickte und seufzte. »Bald, ja.« Es hörte sich ein wenig an wie eine Entschuldigung.
Der Milchschaum in ihrer Tasse war zusammengefallen. Melchior hatte ihren Cappuccino nicht angerührt. Sie saß einfach nur da und starrte ins Leere, als ob sie sich an einem anderen Ort befände.
Treidler
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