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Letzte Ausfahrt Neckartal

Letzte Ausfahrt Neckartal

Titel: Letzte Ausfahrt Neckartal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo Scheurer
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Detail gelangte in die Akten«, erklärte Stankowitz. »Seit der Wende sind die Stasiakten mehr oder weniger frei zugänglich. Aber nur die meisten. Einige wurden gleich nach der Wende von den westdeutschen Behörden beschlagnahmt. Sie sind immer noch unter der Kontrolle des Innenministeriums und werden … wie soll ich sagen … weiterverwendet.«
    »Das wusste ich nicht.« Treidler kamen die unendlichen Aktenreihen in den Sinn, die er aus den Berichten über die Stasi-Behörde kannte. Während der Wende musste es ein Leichtes gewesen sein, einige davon in andere Kanäle zu leiten.
    Stankowitz nickte. »Sehen Sie – und das ist es, was ich Ihnen schon den ganzen Tag klarmachen will. Denn so einfach ist es mit der Wahrheit nie. Meist gibt es davon zwei gute Versionen.«

13
    Samstag, 15.   April
    Am Samstagmorgen erwachte Treidler in seinem Hotelzimmer von einem viel zu lauten elektronischen Piepsen. Im ersten Moment wähnte er sich noch immer in dem Alptraum, der ihn bereits gegen zwei Uhr morgens aus dem Schlaf gerissen hatte. Abermals war er in seinem vergitterten Wohnzimmer gewesen – doch diesmal ohne Lisa. Die Angst, die er zuletzt empfunden hatte, existierte nicht mehr, und bevor sich der gesichtslose Schatten nähern konnte, war er aufgewacht. Obwohl er bald darauf wieder eingeschlafen war und wie ein Stein bis zum Morgen durchgeschlafen hatte, spürte er jetzt die Erschöpfung in allen Gliedern. Es dauerte ein paar Herzschläge, bis sich Treidler zurechtfand und den Radiowecker auf dem Nachtisch als Quelle des unerträglichen Geräusches ausmachte. Seine Augen versuchten, die roten Digitalziffern auf dem altertümlich anmutenden Gerät scharf zu stellen. Sie zeigten acht Uhr einunddreißig.
    Stöhnend hievte Treidler sich hoch, tastete nach dem Wecker und drückte den erstbesten Knopf, den er fand. Abrupt verstummte das Piepsen, und eine wohltuende Ruhe machte sich breit. Er war entschlossen, sich erneut hinzulegen, da fiel es ihm jäh wieder ein: Sie hatten sich verabredet. Gegen zehn Uhr wollte er mit Melchior am Alexanderplatz sein und den nächsten Bus der Linie 100 nehmen.
    Treidler zwang sich aus dem Bett und schlurfte ins Bad. Er verzichtete darauf, in den Spiegel zu schauen, und hob stattdessen den Kopf so lange unter das Wasser, bis er die Kälte nicht mehr aushielt. Es half: Schnell kamen die Lebensgeister zurück und mit ihnen der Hunger. Der Verzicht auf Alkohol zahlte sich bereits aus. Die Aussicht auf ein deftiges Frühstück hob seine Laune weiter, und mit einem Mal fühlte er sich großartig. Er zog sich rasch an und trat noch mit nassen Haaren auf den Gang.
    Beinahe wäre er mit Melchior zusammengestoßen, die fast zur gleichen Zeit ihr Zimmer gegenüber verließ. Sie fuhr herum. Und plötzlich stand er so dicht bei ihr, dass ihr warmer Atem seine Wangen streifte.
    »Morgen, Kollege«, grüßte ihn Melchior strahlend. Anders als gestern trug sie die Haare offen. Ihre dunkelbraunen Augen nahmen seinen Blick gefangen und ließen ihn nicht mehr los. Die tief auf den Hüften sitzende Jeans und der eng anliegende schwarze Rollkragenpullover betonten ihre weiblichen Rundungen. Sie duftete nach einem femininen Parfüm oder Seife, das ihn an eine Blumenwiese erinnerte.
    Treidler versuchte wegzuschauen, doch er ahnte, dass sein Blick ihn schon verraten hatte. »Morgen«, schob er rasch nach und nahm sich vor, den blumigen Geruch ihrer Haare so gut es ging zu ignorieren.
    Melchior hob die Brauen und lächelte ihn an. »Was ist?«
    »Nichts, überhaupt nichts. Ich habe nur …«
    »Nur was?«
    »Hunger«, entgegnete er.
    Melchiors Lächeln wurde sicherer. »Dann lassen Sie uns doch frühstücken gehen.«
    Sie ging voran. In ihrer Gesäßtasche zeichneten sich die Ringe von Handschellen ab. »Wollen Sie jemanden festnehmen?«, fragte er.
    »Wie kommen Sie darauf?«
    »Na, die Handschellen in Ihrer Hosentasche.«
    »Die hab ich immer dabei, das ist so eine Angewohnheit«, antwortete sie. »Und außerdem hatten wir ausgemacht, dass Sie mir nicht die ganze Zeit auf den Hintern schauen.«
    Eine Stunde und mehrere Tassen Kaffee später standen sie vor dem Hotelgebäude. Trotz der frühen Tageszeit wärmte die Sonne bereits angenehm, und ein wolkenloser Himmel spannte sich über Berlin. Aller Voraussicht nach konnten die Bewohner und Besucher der Stadt heute den ersten richtigen Frühlingstag des Jahres genießen. Und der lebhafte Verkehr deutete jetzt schon darauf hin, dass sie vorhatten, es im Freien zu

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