Letzte Ausfahrt Neckartal
zu seinen Vorlieben. Zugleich wollte er den nächsten Tag abwarten, ob Stankowitz tatsächlich an weitere Information zum Virus kam. So wäre der Trip in die Stadt zumindest ein interessanter Zeitvertreib. »Warum eigentlich nicht?«, sagte er schließlich.
»Ihr könntet runter zum Alexanderplatz und den 100er-Bus nehmen. Der fährt an einigen Sehenswürdigkeiten vorbei: Unter den Linden, Brandenburger Tor, Reichstag, Schloss Bellevue – das ganze Programm. Carina kann Ihnen da alles zeigen. Und wenn ihr Glück habt, spielt sogar der Busfahrer noch Stadtführer.«
Treidler schaute zu Melchior und sah in ein regungsloses Gesicht. »Was ist denn mit Ihnen?«
»Es ist der Reichstag, richtig, Carina?«, fragte Stankowitz.
Statt einer Antwort stocherte Melchior in ihren Spaghetti.
Treidler blickte verdutzt zwischen den beiden hin und her. »Was ist mit dem Reichstag?«
Seine Frage hinterließ eine bedrückende Stille. Nur die dumpfen Geräusche der vorbeifahrenden Autos drangen in das Zimmer.
»Vielleicht solltest du es ihm sagen.«
»Nein«, gab Melchior zurück.
»Was sollten Sie mir sagen?« Treidler hatte den Verdacht, dass ihm die beiden etwas Wichtiges verschwiegen.
»Das geht Sie nichts an.«
»Jetzt reicht es mir aber.« Treidler legte die Gabel beiseite. »Hören Sie mir mal ganz genau zu. Sie tun immer so, als ob ich hilfsbedürftig wäre: Der arme Mann hat seine Frau verloren und kommt nie mehr auf die Beine. Da mag vielleicht etwas dran sein. Aber ich versuche wenigstens, mich Lisas Tod zu stellen.«
Melchior lächelte schief. »Wie denn? Indem Sie sich Alkohol reinschütten, bis Ihr Gehirn aussetzt und Sie nicht mehr denken können?«
»Ich glaube, dass Sie diejenige sind, die sich ihren Problemen stellen sollte.« Er schaute in Stankowitz’ Gesicht. Dieser schien ihn mit einem knappen Kopfnicken ermuntern zu wollen. »Warum zum Beispiel haben Sie so viele Jahre für die Interne gearbeitet, wenn es Ihnen schon lange zuwider war. Wer hat Sie dazu gezwungen? Und vor allem, mit was?«
»Das geht Sie nichts an.« Immer noch versteckte Melchior sich hinter einer ausdruckslosen Miene.
»Carina, dein Wachtmeister hat recht«, sagte Stankowitz leise. »Wenn du es ihm nicht erzählst, tue ich es.«
»Dann tut doch, was ihr nicht lassen könnt.« Melchior knallte ihre Gabel auf den Tisch, sprang auf und verließ ohne ein weiteres Wort die Küche.
»Verflucht noch mal«, rief Treidler aus. »Kann mir bitte jemand erklären, was mit ihr ist?«
»Das ist verdammt lange her, und ich weiß nicht, warum ich Ihnen das überhaupt erzähle.« Stankowitz stieß einen Seufzer aus. »Es war der Sommer vor der Wende. Carina hatte gerade ihr Abitur auf der EOS fertig – mit Auszeichnung.« Er schüttelte den Kopf. »Ich kann heute noch nicht verstehen, warum sie das alles aufs Spiel gesetzt hat. Aber so muss es wohl sein, in diesem Alter.«
»Was meinen Sie damit?«
»Einige ihrer Klassenkameraden, drei Jungs, wollten rüber in den Westen.« Stankowitz kratzte sich am Kinn. »Verflucht, Sie sind ein hartnäckiger Mensch. Wollen Sie diese alten Geschichten wirklich hören?«
Treidler nickte.
»Er hieß Franco Lindemann«, sagte da Melchior. Treidler fuhr herum. Sie stand mit verschränkten Armen im Türrahmen und hatte Tränen in den Augen. In einem seltsam mechanischen Tonfall redete sie weiter, während ihr Blick sich zu Boden senkte. »Wir hatten damals vereinbart, dass wir zusammen gehen. Aber vermutlich habe ich mich die Tage davor so blöd angestellt, dass Vater etwas bemerkte. Ich …« Melchior schluckte. »Ich hab ihm den Fluchtplan und die Namen … verraten.«
Stankowitz räusperte sich. »Friedhelm hat eine Kommandoeinheit an den Grenzkanal geschickt, wo die drei Jungs rüberwollten. Nur zwei haben sich ergeben. Der Dritte, Franco Lindemann, ist weitergeschwommen. Sie haben ihn im Wasser erschossen.«
»Sein Kreuz hängt jetzt neben den anderen am Spreeufer, gleich hinter dem Reichstag«, sagte Melchior mit erstickter Stimme. »Es sind weiße Kreuze, und jedes trägt den Namen und das Todesdatum eines Maueropfers. Auf einem steht: Franco Lindemann, 28. Juni 1989 – ein Mittwoch.«
Treidler nickte und spürte den Kloß in seinem Hals. Trotzdem wollte er jetzt die ganze Geschichte hören. »Was hat das mit der Internen zu tun und mit der Erpressung?«
»Die Stasi hat dafür gesorgt, dass der Name Melchior in der Öffentlichkeit nie mit dem Vorfall in Verbindung gebracht wurde. Doch jedes
Weitere Kostenlose Bücher