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Letzte Ausfahrt Ostfriesland

Letzte Ausfahrt Ostfriesland

Titel: Letzte Ausfahrt Ostfriesland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Theodor J. Reisdorf
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Sessel. Seine Augen tasteten mich ab, als suche er nach einer Chance, aus irgendeiner Bewegung oder Äußerung Antworten auf seine Fragen zu finden.
    Ich konnte seine brennende Neugierde nicht befriedigen, sah aber für mich in all den Überraschungen einen ungeschriebenen Auftrag. Im genannten Hotel würde ich meine Tochter antreffen. Dieser Gedanke erfüllte mich mit Zuversicht.
    Der Vorwand war logisch untermauert. Als Oberstudienrat flog ich zu einem Kongress nach Amsterdam und nahm für meine Tochter ein Verlobungsgeschenk mit.
    Neugierig nahm ich die Flugkarte auf. Es war nur der Hinflug gebucht.
    »Ich fliege mit der KLM um achtzehn Uhr dreißig Uhr ab Berlin«, sagte ich und schaute auf die Uhr.
    Das Telefon klingelte. Ich beobachtete, wie Werner ängstlich davonschritt.
    Ich horchte atemlos, doch es war seine Frau, die ihm die Sensation verkündete, dass sein Freund, der Oberstudienrat Doktor Udendorf, verschwunden sei.
    Er kam zurück und sagte: »Du bist zu Hause das Dorf- und Kleinstadtgespräch. Angeblich hältst du dich in Berlin ohne plausible Entschuldigung auf.«
    Ich drückte ihm die Hand, den Tränen nahe.
    »Ich wünschte, sie hätten recht. Werner, halt bitte dein Wort! Bring mich nicht zusätzlich in Gefahr«, sagte ich zu ihm und packte die Reisetasche.
    Wenige Minuten später holte mich der vollbärtige Mann mit seinem Audi A 6 ab und fuhr mich zum Flughafen.
     
    Das Flugzeug war voll besetzt. Als es abhob und die Schubkraft mich in den Sitz presste, hatte ich für wenige Sekunden das Gefühl, von meinen Sorgen und Ängsten befreit zu sein.
    Dazu trug auch der Blick bei, den ich Minuten später aus dem Fenster auf Berlin warf. Um die Gedächtniskirche hatte sich der Wohlstand ausgebreitet mit prachtvollen Bauten.
    Kleine Wolkenkissen schwebten an den Fenstern vorbei. Mir fiel das Lied von Reinhard May ein, und meine Gedanken wurden abgelöst von der Angst um meine Tochter.
    Es gab ein Leben nach dem Tod, das hatte Anke mir bewiesen. Sterben konnte demnach nur ein Übergang sein. Aber was hatte es auf sich mit dem Leben? Warum besaß ich es, wenn man es mir wieder nehmen würde? Musste ich Rechenschaft ablegen über jede Minute des gehabten Daseins? Richtete Gott nach den Maßstäben der Kirche? War für uns hier auf der Erde der Rahmen klar genug abgesteckt, dass jeder seine Orientierung anhand von festgelegten Werten finden konnte?
    Während mich die Düsen des Flugzeuges mit ihrem monotonen Gesang einschläferten, lag ich bequem im Sessel.
    Ich war fünfzig Jahre alt. Die meisten Jahre hatten nur meiner Familie gegolten. Meine Frau hatte selbst aus der anderen Welt aus diesem Grunde meinen Kontakt gesucht. Und nun opferte ich mich auf für meine Tochter, die bereits erwachsen war. Es war nur natürlich, dass uns das Schicksal unserer Kinder mehr bedeutet als unser eigenes.
    Inga hatte immer ein gutes Elternhaus gehabt. Dennoch konnten ihre Fehler in unserer gut gemeinten Erziehung ihre Ursachen finden. Selbstlos, immer mit dem Blick auf mögliche Bedrohungen, Gefahren oder Versagen, hatten wir ihr die Hindernisse aus dem Weg geräumt. Wir hatten uns bemüht, den wilden Lebensstrom für sie zu bremsen und zu regulieren.
    Aber in jedem Leben gibt es Naturereignisse, die sich zu Katastrophen auswachsen können.
    Und wie stand es um mich? Was erhoffte ich noch für die wenigen Jahre, die mir noch blieben?
    In zehn Jahren würde ich sechzig sein. In zwanzig Jahren siebzig, dachte ich nach.
    Wie schnell waren die fünfzig Jahre vergangen! Die Aktivseite meiner Bilanz nahm Inga ein, auf deren sorgenvollen Spuren ich nun unter der Belastung dienstlicher Unkorrektheiten reiste. Natürlich zierte auch unser Bungalow die Bilanz, während auf der Passivseite die gezahlten Zinsen einst in der Höhe der Alpen vor uns gelegen hatten. Das Schuldengebirge war geschmolzen, aber noch nicht abgetragen. Wie hart war der Urlaubsverzicht gewesen!
    Ich befand mich über den Wolken. Wie die Maschine über Amsterdam, so musste auch ich zurück auf den Boden der Tatsachen.
    Amsterdam war nicht Berlin. In dieser Stadt der Grachten und Kanäle wollte ich meine Tochter wiedersehen, ihr beistehen und sie fragen mit den uralten Worten: »Kind, warum hast du das getan? Deine Mutter und ich haben nach dir gesucht.«
    Die Maschine flog die letzte Schleife und setzte auf.
    Wie aus einem Traum erwacht, griff ich nach meinem Gepäck und hatte vergessen, dass es ein Geschenk für Inga enthielt.
    Zuversichtlich und optimistisch

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