Letzte Bootsfahrt
Zusammen mit dem abgerissenen Knopf waren das doch Hinweise, die Zweifel an einem natürlichen Tod aufkommen ließen.
Der Friedrich erhob sich ächzend von der Stiege, als Gasperlmaier wieder auftauchte. Die Tochter schien sich ein wenig beruhigt zu haben. „Setzen wir uns jetzt vielleicht ins Wohnzimmer, Frau …“ Der Friedrich ließ den Satz ausklingen. „Schnabel“, sagte die. „Roswitha Schnabel.“ „Frau Schnabel. Um zu besprechen, was hier geschehen ist, und was zu tun ist.“ Die Frau Schnabel nickte und bat sie ins Wohnzimmer. Gasperlmaier folgte ihr und nahm den Raum in Augenschein. Als erstes fielen ihm die vielen Steine auf, die auf Regalen sorgsam geordnet lagen. Es gab sie in allen Farben und vielen Größen, roh und kantig genauso wie rund und geschliffen, von durchscheinend bis kohlrabenschwarz. Zusätzlich waren die freien Wände mit Bildern und Zeichnungen übersät, die meist menschliche Körper mit irgendwelchen Kreisen und Linien zeigten, die durch die Körper hindurch- und um sie herumführten. Auf einigen Bildern waren engelartige Wesen zu sehen, die verschwommen zwischen Wolken in allen Farben des Lichtspektrums herumschwebten. Es war ein wenig gespenstisch.
„Das ist meine Mutter.“ Die Frau Schnabel zeigte auf eine in einem Lehnsessel sitzende Frau, die zwischen Daumen und Zeigefinger einen rosaroten, durchscheinenden Stein festhielt, den sie in der Herzgegend gegen ihren Pullover drückte. Der war ebenfalls rosarot, wie Gasperlmaier auffiel, als er sich ihr näherte, sich vorstellte und die Hand ausstreckte. „Nicht!“, warnte ihn die Frau Schnabel. „Sie schüttelt keine Hände. Zumindest nicht Ihre, nicht hier und nicht jetzt.“ Plötzlich meldete sich die Mutter selbst zu Wort. „Das ist ganz schlecht für die Aura, wissen Sie das nicht? Man stört die Energieflüsse, man beschädigt das Chakra. Menschen sollten sich überhaupt nicht zu nahe kommen.“
Die Frau Schnabel zuckte mit den Schultern und bot ihnen Platz an. Gasperlmaier fand, dass die Frau Breitwieser zwar seltsame Dinge gesagt hatte, von ihrer Art und Sprechweise her aber ganz normal, sogar freundlich wirkte. Verrückt schien sie ihm nicht zu sein, obwohl er sich natürlich fragte, was der Stein zu bedeuten hatte. Offenbar hatte er ihn etwas zu lange angestarrt, denn die Frau Breitwieser begann ungefragt zu erklären. „Rosenquarz. Er stärkt mein Herz-Chakra. Das Zentrum der bedingungslosen Liebe. Es war eine mühevolle Aufgabe für mich, meinen Mann bedingungslos zu lieben.“ Gasperlmaier verstand ziemlich wenig von dem, was sie gesagt hatte, er war schon beim „Chakra“ ausgestiegen. Die Frau Schnabel seufzte. „Meine Mutter interessiert sich sehr für, für …“ Sie zögerte ein wenig, so als suche sie nach Wörtern, die ihre Mutter nicht beleidigten. „Spirituelle Dinge. Sie beschäftigt sich mit Engeln, Lichtwesen und solchen Sachen. Ich respektiere das.“ In ihrem letzten Satz hörte Gasperlmaier etwas mitschwingen, was nicht ganz dem Wortlaut entsprach. Auch warf die Frau Schnabel ihrer Mutter Blicke zu, die darauf schließen ließen, dass sie selbst nicht in dieser Engelwelt lebte und so ihre Probleme mit dem Glauben ihrer Mutter hatte.
„Zur Sache!“ Der Friedrich wurde ungeduldig und wollte offenbar in der Angelegenheit, deretwegen sie hier waren, etwas weiterbringen. „Was ist eigentlich genau passiert?“ Er wandte sich dabei an die Frau Schnabel. Die aber zuckte nur mit den Schultern. „Ich war ja selbst nicht dabei. Meine Mutter hat mich angerufen. Sie hat sich ein wenig unklar ausgedrückt. Mein Vater sei zu den Meistern aufgestiegen, er sei abgeholt worden, obwohl er es gar nicht verdient habe, hat sie gesagt. Ich bin dann natürlich gleich her. Das hat ein paar Minuten gedauert, ich war gerade in der Stadt, in Aussee. Und da habe ich genau die Situation vorgefunden wie Sie jetzt auch. Meine Mutter hat keine weiteren Erklärungen abgegeben.“
Gasperlmaier kam ein fürchterlicher Verdacht. Was, wenn die Frau Breitwieser in einem Anfall geistiger Umnachtung beschlossen hatte, ein wenig dabei nachzuhelfen, dass ihr Mann ins Reich der Engel gelangte? Wenn sie seinen Kopf in die Klomuschel gedrückt und hinuntergespült hatte? Wieder und wieder? Bis er sich nicht mehr rührte? „Waren Sie dabei, als Ihr Mann gestorben ist?“, fragte er sie deshalb einfach. Die Frau Breitwieser sah ihn an, lange und durchdringend, wie Gasperlmaier fand, und entschloss sich dann zu einer Antwort.
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