Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
brobdingnagischen Backenzahnfels in der Mitte. – Währenddessen immer das Ottlik-Erlebnis (
Buda
), dem ich mich stellen, das ich bewältigen muß (auf produktive Weise, also indem ich von seiner Technik lerne). Gestern habe ich, im Liegestuhl auf dem von grünen und weißen Gipfeln umringten Rasen liegend, den halben Tag über nur dieses großartige Buch gelesen. Heute hat mich so etwas wie eine sekundäre Inspiration im Morgengrauen aus dem Bett getrieben, um ein paar Zeilen in Zusammenhang mit der
Letzten
zu notieren. Und damit wende ich mich vom Hedonismus des Ferienorts, vom Schwimmen, Spaziergehen und genußvollen Bewundern der Landschaft ab und überlasse mich der Arbeit, woraus mit Sicherheit Konflikte resultieren werden. «Wenn ich zu arbeiten beginne, wird die Welt zum Feind für mich.»
6 . August 2004 Gstaad, Palace Hotel. Morgens halb sieben, seit anderthalb Stunden wach, leide unter Untätigkeit und Unvermögen. Großer Zusammenbruch, mit allem was dazugehört. Ringsherum die Schweizer Berge, die süße Schokoladenpapierlandschaft, die einen, wenn sie sich plötzlich in Realität, in echte Felsen, unbezwingbare Steilwände usw. verwandelt – sagen wir, man steht dort im Schneesturm, allein, mit schwindenden Kräften –, auf einmal den Unterschied zwischen Schein und nackter Wahrheit begreifen läßt. Ich weiß nicht, wie ich die schwierigen Probleme der
Letzten Einkehr
lösen soll. Ich gelange nicht zu der nackten Wahrheit. Ich weiß nicht, was die nackte Wahrheit der
Letzten Einkehr
ist. Vielleicht die Ironie, wie mich der Literarische Hauptgewinn erreicht und vernichtet. Doch dazu ist es nötig, den lächerlichen Gegensatz zwischen meinem Leben und diesem Hauptgewinn klar zu umreißen. In dem Fall müßte ich meine Umgebung als das abbilden, was sie ist: eine mörderische Welt wohlmeinender Verschwörer. Und mich selbst gleicherweise: als eine lächerliche, hilflos im Honig ertrinkende Fliege, eine zugrunde gehende Figur, die sich ohnmächtig ihren sie liebenden Mördern ergibt. Jetzt deutet alles darauf hin, daß ich im Herbst nach New York fliegen muß. Man könnte sagen, daß dies nicht gerade die größte Tragödie ist, wiewohl eine ziemlich große: Es dient der Werbung für mich, und vor diesem Spektakel gibt es kein Entkommen mehr. Nirgends kann ich mich zurückziehen, um nachzudenken, um der eventuell über mich hereinbrechenden Leidenschaft des Schreibens zu frönen, wie einst. Damit hatte ich schon immer Probleme. Und war damit schon immer allein. Schon immer wollte man etwas von mir, das ich nicht wollte. Brachte ich im verborgenen etwas hervor und es hatte Erfolg, schätzte man das Ergebnis; aber nie glaubte man, daß der Weg zu diesem Ergebnis über den Schaffensakt führt. Hier breitet sich jetzt vor mir ein Manuskripthaufen aus, von dem ich vielleicht zwanzig Seiten Material verwenden kann. Warum halte ich an der Tagebuchform fest? Weil meine Phantasie nicht ausreicht, um die Geschichte in Fiktion zu verwandeln, direkt gesagt, einen Roman zu schreiben. Ich hatte nie einen anderen Stoff als mein Leben, aber das war wenigstens interessant. Jetzt ist daraus etwas Mittelmäßiges geworden, ein substanzloses Vegetieren; meine Rolle, die Rolle des erfolgreichen Schriftstellers, ist widerwärtig; und widerwärtig ist auch die Rolle des Kontoinhabers, des wohltätigen, großzügigen Käufers von Kunstobjekten bzw. eines Mannes, der den Kauf von Kunstobjekten finanzieren soll. Mich widert die Verachtung an, die mich – im Grunde genommen – von allen Seiten umgibt.
12 . August 2004 Gstaad. An meinem grauen Leben hat sich an diesem bunten Ferienort nichts geändert: Die Nächte und auch der größte Teil der Tage vergehen mit Arbeit. Ich glaube, ich habe eine schöne Sequenz der
Letzten
geschrieben (quasi die Software für das Buch erschlossen), und auch die Probleme scheinen nachzulassen. Ich bat Morcsányi, alles aus meinen Arbeiten herauszusuchen, was ich jemals zum Stichwort «Tod» geschrieben habe. Die
Letzte
wird ein gnadenloses Buch, und es wird nur dann ein Buch daraus, wenn es gnadenlos wird. Eigentlich müßte es hinterlegt und erst nach meinem Tod publiziert werden. Doch ich würde die Wirkung, genauer gesagt, das Buch, gern noch zu meinen Lebzeiten sehen. – Gestern nacht langes Gespräch mit Vera Ligeti. Alles was sie sagte, deutet darauf, daß der arme Ligeti mit dem Tod kämpft. Aber noch in der Agonie funktioniert seine Kreativität, und zwar in Form von Träumen:
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