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Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Titel: Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Imre Kertész
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großen Meisters verstanden, mit der er Europa vom schlechten Gewissen befreien wollte, auch dann, wenn sich der «Schülerstreich» natürlich als etwas übertrieben erweist. Kein einziger Gesellschaftsphilosoph, Soziologe (Pädagoge, Gynäkologe), sah die künftigen Probleme so klar wie Nietzsche. – Der sogenannte Terrorismus aber – in welcher bestialischen Form er auch immer auftritt – ist dennoch nur das Ergebnis hilfloser Frustration; die Araber, die schon immer für ihren Stolz und ihr leicht zu erschütterndes Selbstbewußtsein bekannt waren, erlitten seit 1948 furchtbare Demütigungen, deren Höhepunkt der Sechstagekrieg von 1967 war. Es ist ihnen ganz gleichgültig, daß sie selbst die Ursache für diese Demütigungen waren, ihre Mängel, ihre Intoleranz, ihre willenlose Trägheit, ihre Unfähigkeit zur Staatsgründung; und wenn wir zudem in Betracht ziehen, was für ein Territorium, welcher Reichtum ihnen zur Verfügung steht, der von ihren Führern nicht zum Wohl des Volkes, sondern zum eigenen, persönlichen Nutzen verwendet wird, sollten wir von Mitleid erst recht absehen; dennoch, diese zerstörerischen Emotionen kommen durch Frustration zustande, durch Niederlagen, durch nichts anderes. Geschlagene Völker müssen jemand schlagen, damit die niederträchtigen Seelen Befriedigung finden. Das beste Beispiel ist die Frustration der Deutschen und Österreicher nach dem ersten Weltkrieg, deren Kloake ganz und gar in den Morast des Judenhasses gepumpt wurde. Eine andere Frage ist dann, wie weit sie in die Wollust des Demütigens eintauchen; daß ihre Politik in der Praxis zu einer Politik des Hasses und der Unversöhnlichkeit geworden ist. – In der vergangenen Nacht las ich im übrigen die etwa 28 Seiten durch, die schon von der
Letzten Einkehr
stehen; auf einmal begriff ich wieder – wie schon so oft – das Gesetzmäßige von Zufällen: Damit die
Letzte Einkehr
so werden kann, wie sie von mir gedacht ist, muß ich zuvor das Gesprächsbuch schreiben. Diese Arbeit kommt also nicht nur wie gerufen, um mich aufzumuntern, sondern ist ein schriftstellerisches Bedürfnis in der Reihe der Romanpaare; und vielleicht auch ein würdiger Abschluß.
    11 . September 2004  Gerade aus Weimar zurückgekehrt, stolz und müde. Gestern abend habe ich im Goethe-Theater den
Spurensucher
gelesen, auf Deutsch; müde war ich mit András Schiff auf die Bühne gegangen, auf ein Desaster gefaßt; vorher hatte ich zu Hause – in Berlin – versucht, den Text einzustudieren, war jedoch außerstande, ihn laut für mich selbst zu lesen: Ich schlief nach den ersten Sätzen einfach ein. Was dann gestern passierte, weiß ich nicht: Ich begann zu lesen und entdeckte den Text plötzlich für mich. Erschüttert las ich, und das Publikum ging mit: Ohne einen Muckser lauschte es dem Text ebenso erschüttert wie ich. Das arme Buch, das von der ungarischen Kritik so besudelt und geschändet worden ist, daß diese unkultivierte Barbarei mir schließlich die Freude an meinem eigenen Werk genommen hat, ist zum Leben erwacht. Seit gestern gehört es wieder mir, und wieder ist offenbar geworden, wohin ich gehöre, wo das Publikum zu suchen ist, das meine Werke versteht und danach verlangt. Als ich nach Hause kam, habe ich den zweiten Satz von Schuberts A-Dur-Sonate aufgelegt, das
Andantino
, das András zum Abschluß der Lesung neben mir auf der Bühne gespielt hat.
    Am Tag zuvor im Virchow-Krankenhaus, Dr. Arnold. Er fragte mich über den Stand meiner Parkinson-Erkrankung aus. Weißes Haar, junges, sympathisches, kreolisches Gesicht. Ihn interessierte, wie sich die Krankheit auf meine Kreativität auswirkt. Einen Moment lang hatte ich den Eindruck, er wolle mit mir experimentieren, womit ich einverstanden gewesen wäre, vorausgesetzt, er bezöge mich in seine Experimente ein und würde mich über jeden seiner Schritte informieren. Erst mal erhöhen wir meine Mirapexin-Dosis. Ich verließ ihn mit einem guten Gefühl. – Als wir heute bei der Rückkehr aus Weimar mit dem Auto über den Kurfürstendamm fuhren, erfaßte mich Freude, nach Hause zu kommen.
    21 . September 2004  Seit gestern abend wieder in Budapest. M. hatte mir die Nachricht schon nach Berlin durchtelefoniert: Die kleine Bernadette hat ein Mädchen bekommen. Heute vormittag haben wir Emma im Krankenhaus besichtigt: Vorläufig lebt sie das unergründliche Leben eines Säuglings, aber auf ihrem zerknautschten Gesicht schien sich mitunter ein feines und sinnliches Lächeln zu

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