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Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Titel: Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Imre Kertész
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zeigen. – Vorher die Tage in Berlin, die Erotik der Stadt, es fiel mir wieder schwer, sie zu verlassen. Hingegen habe ich im Gesprächsbuch eine interessante Sequenz geschrieben, den Namen Holocaust kommentierend.
    23 . September 2004  Nachts Dreiviertel zwei. «Der Wahnsinn grenzt hier nahe an die Begeisterung, nur gelingt dem Wahnsinn nichts. Bisher hat die Geistesverwirrung noch nie maßgebenden Einfluß auf die Entwicklung der Menschheit gewonnen», schreibt der gute Ernest Renan in seinem Jesus-Buch.
By the way:
Vor der Budapest-Reise sahen wir in Berlin den neuesten Hitler-Film (
Der Untergang
). – Die Operation (Zähne einsetzen), nun schon drei Tage her. Mein Gesicht ist blau, lila und geschwollen. Außerdem schwere Schlaflosigkeit, die Herzrhythmusstörungen verursacht. Langsames Vorankommen im Gesprächsbuch.
    26 . September 2004  Durch einen falschen Tastendruck ist der erste Text verlorengegangen, den ich zuvor unter demselben Datum geschrieben hatte. Die Lust am Selbsthaß quält mich: der klar ersichtliche Weg meines Verfalls. Im übrigen war in dem verlorenen Text der Titel
Don Quijote
vorgekommen, nach dem ich ca. fünf Minuten in meinem Gedächtnis gekramt hatte, ohne daß er mir einfiel. Mein Zustand ist beängstigend, neiderfüllt sah ich, daß fast alle Akteure in dem Hitler-Film über tödliche Giftkapseln verfügten. Und ob ich die nähme!
    27 . September 2004  Budapest. Gestern und vorgestern ist mir vom Taxi aus die Schönheit und Verwahrlosung der Stadt ins Auge gefallen. Eine Herzogin im Morgenrock ihrer Magd, zerzaust und mit hoffnungsloser Miene auf ihr Frühstück wartend. – Gestern Fellinis
Das süße Leben
im Filmmuseum. Überwältigend. In der Kádár-Diktatur hatte ich nur eine verstümmelte Fassung gesehen; die Größe des Films konnte ich erst jetzt verstehen. – Das Erlebnis Szomory (
Der Lehrer Horeb
).
    27 . September 2004  Mittags Spaziergang von der Zahnarzt-Praxis nach Hause, über die Szilágyi-Allee. Sofort eine Unmenge alter Erinnerungen. Alles hat sich entschieden verändert. Selbst der Duft der Kastanienbäume im Herbst. Und statt Mahler höre ich heute lieber Haydn und Mozart.
    1 . Oktober 2004  Ein großes Stück des Gesprächsbuchs fertig (bis Seite 45 ). Gemeinsam mit Zoltán Hafner nach dem Originaltitel
Erdenbürger und Pilger
meiner früheren kleinen Erzählung gesucht. Ich wußte noch, daß er aus einem Buch Augustins stammt, zuerst glaubte ich, aus den
Bekenntnissen
, dann fiel mir ein, aus
De civitate Dei
. Auch daß ich den Hinweis auf Kain und Abel nicht dem Original, sondern einer sich darauf beziehenden Studie entnommen habe, weiß ich noch; aber keine Ahnung, aus welcher.
    4 . Oktober 2004  Berlin, 3 Uhr morgens. Am Abend aus Budapest zurückgekommen. Bleierne Müdigkeit, unausgeschlafen, schlaflos. Aus meinem Fenster sehe ich den zum Funkturm verkleinerten Eifelturm, in goldnem Licht erstrahlt. Magda konnte sich diesmal nur schwer von Budapest losreißen, wegen der Geburt Emmas und ihres wunderbaren Verhältnisses zu dem Kleinen. Ich schaffe es nicht, meinem gehetzten Leben hinterherzukommen.
    5 . Oktober 2004  Im Alter von 75 Jahren bin ich fremden Mächten ausgeliefert. Erst gebe ich das schöpferische Leben auf, danach mich selbst, und dann sterbe ich. – Gestern erhielt ich in der Orangerie des Schlosses Charlottenburg vom Bundespräsidenten «Das Große Verdienstkreuz mit dem Stern».
    8 . Oktober 2004  Erledigungen (Zahnarzt, Schneider, Vorbereitungen für die Amerikareise usw.). Menschlich und schriftstellerisch völlige Stagnation. Auf ein Minimum reduzierte Libido. Morgen muß ich nach Frankfurt, um Esterházy zu feiern. – Ein schöner Brief von Professor A., der schreibt: «… in Berlin, Ihrer neuen Heimatstadt …». Ist das nicht wundervoll?
    16 . Oktober 2004  New York. Sechs Uhr morgens. Von Zeit zu Zeit trete ich ans Fenster und schaue auf die ringsum in unermeßliche Höhe aufragenden Gebäude, die über die Straßen rasenden Autos, die Lichter, diese ganze Welt, die mich hier umgibt und mich so furchtbar heimatlich anmutet. – Vorher noch Berlin und Frankfurt. Das Tamtam um Esterházy. Eitelkeit, Geltungsdrang, Kleinlichkeit. Daß man es unterließ, mich zu begrüßen. Jedermann – auch ich – hatte bereits vergessen, daß ich meinen «Rang» als Schriftsteller ja Auschwitz verdanke. – In Berlin bei Dr. A.: Mein Parkinson-Elend beginnt unerträglich zu werden. – Meister Arnulf, der Schneider – seine

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