Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
Er hat nuancierte Träume vom Scheitern. Irgendwo erhält er von irgendwem eine enorm komplizierte Aufgabe, die er unbedingt lösen muß, doch die Aufgabe ist zu schwer, er ist unfähig, sie zu bewältigen. Erwachend, noch fast im Halbschlaf, erzählt er die Geschichte sofort, doch so, als habe er alles wirklich erlebt; und ist es nicht auch so? Was ist ein Traum, und worin unterscheidet er sich von der sogenannten Wirklichkeit? Ist er nicht eine Form des Lebens, die nur im Hinblick auf den physischen Unterschied anders als dieses ist, in die wir aber letztlich unsere ganze Existenz einbringen, genauso wie in unsere wirklichen Handlungen; und auch unsere Passivität ähnelt unseren wirklichen Schrecken.
18 . August 2004 Noch immer Gstaad. Vor vier Tagen bekam ich von Hafner das Manuskript unseres Gesprächsmaterials. Auf einmal überkam mich die Lust, dieses «Gesprächsbuch», meine Autobiographie, selbst zu schreiben. Innerhalb von drei, vier Tagen produzierte ich 24 Seiten: Kindheit, Kommentare dazu usw.: Ich genoß es wie ein Tier, das sich von der (Stil-)Leine seines strengen Herrn (
Letzte Einkehr
) losgerissen hat und nun frei auf offnem Feld herumrennt. – Auf beängstigende Weise fortschreitender Parkinson: Auch das Schreiben auf dem Laptop fällt mir bereits schwer. – Die Übersetzung der
Detektivgeschichte
läuft.
25 . August 2004 Magdas Geburtstag. Wir sind schon in Budapest: Abends aus Gstaad in Berlin angekommen, am nächsten Abend Flug nach Budapest. Dieses irrsinnige Tempo, wie eine Flucht. Die für den 27 . geplante Baumpflanzung (in Balatonfüred) abgesagt; wir sollten deswegen auf dem Rückweg von Szigliget in Füred haltmachen, aber da habe ich mich stur gestellt. Ich habe das Gefühl, daß sich damit eine revolutionäre Veränderung anbahnt: Meine Entschlossenheit, mich unliebsamen Programmen zu entziehen, wächst. Man will mich glauben machen, ich hätte «Pflichten». Wenn ich Pflichten habe, dann nur mir selbst gegenüber.
31 . August 2004 In Berlin. Ich verbringe meine Tage im luftigen Wolkengewand der Müdigkeit. Nehme nicht ganz teil an meinem Leben, das deswegen verwildert und äußerst mühsam ist, wie eine verkommene Wohnung. In Budapest regte sich in mir das nicht existierende Familiengefühl; plötzlich mochte ich den Kleinen gern, mit seinen Eltern sympathisiere ich schon lange, und das wird immer stärker in mir. Dann Berlin, eine Unmenge Papier. Darunter auch ein Brief, in dem man mir mitteilt, daß ich den
Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland
erhalten soll. Obwohl mich Auszeichnungen nicht sehr interessieren, ergriff mich beim Anblick dieser Nachricht doch ein stilles Staunen. Von Auschwitz zu einem deutschen Verdienstorden: Das ist doch etwas, was mir nur wenige nachmachen können – wobei ich natürlich nichts
gemacht habe
, sondern etwas mit mir
gemacht worden
ist. – Heute ein einigermaßen unbehagliches Treffen mit den Leuten vom Suhrkamp Verlag. Wir aßen bei Dressler, auch M. war dabei, mit hochgestecktem Haar, ihrem vor Aufregung glühenden, klugen Gesicht. Unbehaglich machte das Gespräch, daß ich, während ich den «Verrat» längst beschlossen habe, sehen mußte, wie schmerzlich meine Untreue für sie ist. Ich verheimlichte meine Sympathie für Rowohlt beziehungsweise Fest nicht länger. Und lehnte den Vorschlag ab, einen Vertrag über ein weiteres Buch mit ihnen zu schließen. Ich spiele bei solchen Gelegenheiten immer den Trottel, während ich mir im klaren darüber bin, daß ich jemand eine Enttäuschung bereite: meine unangenehmste Rolle, und daß ich mich dabei schlecht fühle, zeigt, daß ich nicht zum hartherzigen Geschäftsmann geboren bin. Ich tue zuviel dafür, daß man mich liebt; anscheinend ist mir das noch wichtiger als ein gutes Ergebnis, und das zeugt von einem schwachen Charakter.
4 . September 2004 Gestern, Freitag, Mittagessen mit Fest und seiner charmanten Frau Christine. Wir blieben bis sechs zusammen, saßen zuerst auf der Terrasse bei Diekmann, später zwischen den Grünpflanzen hier bei uns im Atrium. Sie konnten sich nicht von uns trennen, und ich mußte an die einstigen Besuche der Spirós, noch in der Török-Straße, denken. Ich fühlte mich wohl, ich mag diese beiden liebenswürdigen, schönen Menschen; mit Fest unterhielt ich mich über Literatur – wann habe ich mich zum letzten Mal mit einem Verleger über Literatur unterhalten?
5 . September 2004 Im Licht des Terrorismus habe ich die Weitsicht meines
Weitere Kostenlose Bücher