Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
den «Kindern» im Garten des Petőfi-Literaturmuseums saß, mochte ich den Kleinen plötzlich. Die noble Hilflosigkeit des Kindes, das Zucken seines Mundes, wenn er mit schweren Wörtern kämpft, sein Vertrauen, seine Verzweiflung, seine hoffnungslose Ausgeliefertheit: die ganze Zerbrechlichkeit, das ganze Wunder seiner Existenz und daß so ein beginnendes Leben sich regt und einen Willen hat – das alles rührte mich. – Der Baudelaire-Vers zur
Letzten Einkehr
– er platzte György Klein, der die ganze Weltliteratur auswendig kennt, aus dem Gedächtnis, als ich ihm den Titel meiner Arbeit nannte: «Dann schlägt die Stunde, wo des Zufalls Majestät, / Die Tugend – unberührt Gespons in deinem Bette! –, / Wo selbst die Reue (o! du letzte Einkehrstätte!), / Wo alle rufen: Stirb, du Feigling, s’ist zu spät!»
24 . Juni 2004 Abendessen am Rand der Budaer Berge (Uhu-Villa): M., die Kállais, László Marton, Virág. Die Zeit schien über der Terrasse stillzustehen, es war, als würde sie mich in ihren Armen wiegen und mit einer süßen, traurigen Abschiedsgeste dem Augenblick entheben. Gutes Essen, gute Bedienung. Erinnerungen, viel Lachen über traurige Dinge. Am Vormittag im Verlag (Morcsányi, Hafner). Ich bewege mich zwischen den vertrauten Kulissen einer Traumwelt, einer Welt, die verlassen zu müssen ich bedauern würde. Obwohl die Anziehung vielleicht gerade darin liegt, daß ich sie verlassen muß. In letzter Zeit empfinde ich verstärkt die «Süße des Lebens». Ich habe Bücher gekauft. Und ich bemühe mich, in einer haßerfüllten Welt ohne Haß zu leben; ich bemühe mich, keine schändlichen, kunstlosen Sätze mehr niederzuschreiben.
29 . Juni 2004 Berlin. Rosafarbene Frühe. Mein Turmzimmer, diese Berliner Warte, von der ich über Türme, Dächer und geheimnisvoll blinkende Signallichter blicke. – Heute abend gehen wir in
Moses und Aron
(Staatsoper, Barenboim), morgen für zwei Tage nach Tübingen, zu einer Lesung im Kreis von Freunden. – An der Sorbonne will man mir die Würde eines Ehrendoktors verleihen.
Avant de mourir
… Unfaßlich. – Mein schriftstellerisches Leben steckt zwischen schönen Pflichten fest. Noch immer glaube ich nicht, daß ich identisch bin mit jener Berühmtheit namens K., von der ich von Zeit zu Zeit in der Zeitung lese, an deren Adresse Leserbriefe bei mir ankommen …
9 . Juli 2004 Ich müßte von den Tagen in Tübingen berichten, Begegnungen mit Freunden – unter anderem mit Ransmayr, diesem romantischen Hünen, der in Verbrüderung mit den Sternen und dem Nordpol lebt und den wir, sowohl ich als auch M., so mögen –, aber mein chaotischer, in kreativer Hinsicht unter Trägheit leidender Geisteszustand macht mir das Schreiben unmöglich. – Der Hölderlin-Turm, der Neckar, die Stocherkähne; die Begegnungen mit Herta Müller, der «kleinen Frau», mit Schindel (die Verfilmung seines Romans, von der Herta sagte: «eine Anmaßung»), mit Tankred, mit Magris, diesem besonders sympathischen Menschen.
12 . Juli 2004 Über die Sinnlichkeit religiöser Frauen (christlicher, katholischer). – Voraussetzung ist dabei nicht, daß die Frau wirklich religiös ist, es reicht der religiöse Seelentyp – wenn ich so sagen darf; sie muß nicht einmal in die Kirche gehen.
18 . Juli 2004 Eine an schlimmste Zeiten erinnernde Unschlüssigkeit und Unsicherheit. Dabei war ich doch schon mehrmals überzeugt, daß sowohl der Text als auch das Projekt gut sind. Habe mich dessen selbst vergewissert. Gestern der Tiefpunkt, den ganzen Tag herumvegetiert, herumgeirrt, abends Fernsehen (allein, da M. in Budapest ist). Wahrscheinlich sollte ich eine Geschichte schreiben und nicht von mir sprechen; andererseits finde ich es unmöglich, zu
Galeerentagebuch
und
Ein anderer
nicht noch
Die letzte Einkehr
hinzuzufügen. Ich weiß, es wird sich schwer verkaufen lassen. Schrecklich, daß solche Gedanken überhaupt in mir aufkommen können. Wem zum Teufel will ich gefallen?
19 . Juli 2004 Ich schreibe derart verständlich, daß ich mich manchmal selbst nicht verstehe. Die Verbindung zwischen
Kaddisch
und
Liquidation
besteht nicht darin, daß beide Figuren B. heißen, sondern darin, daß beide B. Schriftsteller sind. Warum sollte es also nicht sein, daß
Liquidation
nicht die sogenannte reale Fortsetzung des früheren Romans, sondern ein Gedankenspiel des Schriftstellers B. ist: Was wäre, wäre es so, wie es sein müßte? Nach der Papier-Logik müßte B. Selbstmord
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