Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
begehen – das folgt aus
Kaddisch
–, aber ist es so sicher, daß er dieser Suggestion folgt? Es gibt dafür keinen Beweis. Im Gegenteil, das Spielerische des ganzen Romans, die legere und etwas unwahrscheinlich wirkende Beschreibung des Selbstmords weisen darauf hin, daß sich hier jemand einen Spaß mit dem Leser macht. Setzen wir voraus, daß die Person, die hinter dem Roman steht – derjenige, der die Figuren am Anfang und Ende des Buches in die dritte Person setzt, von sich selbst aber wie ein allwissender Erzähler im subjektiven Plural spricht –, kein anderer ist, als der aus
Kaddisch
bekannte B., gehen wir also davon aus, dann wird der Stilwechsel von B. auffällig, und es wird klar, daß in
Liquidation
ein Schriftsteller erscheint (aber nicht als leidender Held, sondern als Schöpfer), der sein Spiel mit den bei den Figuren und sich selbst erblickten Möglichkeiten und Gefahren treibt.
Liquidation
stellt – und darauf weisen unzählige Elemente des Buches deutlich hin – nicht eine Geschichte dar, sondern eine
mögliche
Geschichte. Deshalb hatte ich mir gleich zu Beginn der Arbeit notiert: Satyrspiel zu
Kaddisch
. Das sagt alles. Es ist also unsinnig, wenn R. und Frau Löffler postulieren,
Kaddisch
sei der verbrannte Roman. Warum hätte B.
Kaddisch
verbrennen lassen sollen? Daraus, genauer gesagt, aus der Niederschrift des
Kaddisch
-Romans folgt doch alles. Es gibt keinen verbrannten Roman, aber es gibt einen wirklichen, den, den wir gerade lesen und der davon handelt, daß ein
möglicher
Roman verbrannt wird. Dieser Spiegelsaal ist die geheime Kammer des Romans, die mit dem Schlüssel zur «siebten Tür» zu betreten ist.
23 . Juli 2004 Nach einem seit Monaten anhaltenden Gefühl des
Unbehagens
[6] wurde mir vorgestern endlich klar, daß
Die letzte Einkehr
verdorben ist. Ich habe gegen den Rhythmus verstoßen, dadurch ist es zu persönlich und irgendwie lächerlich geworden; als wollte ich eine Geschichte erzählen und doch wieder nicht – schauderhafte Affektiertheit. Gar nicht zu reden von der totalen Vernachlässigung einer radikalen Betrachtung: Das Ganze ist zu einer Art Familienchronik geworden. Sind die Fehler noch zu korrigieren? Oder muß ich das Ganze wegwerfen? Ich bin ratlos: Dieses Gefühl ist neu für mich, bei der Arbeit an
Liquidation
ist es zum ersten Mal aufgetaucht. Es könnte bedeuten, das, woran ich gerade schreibe, ist obsolet. – Im übrigen eine Woche Einsamkeit (Magda in Budapest, sie feiert mit ihrer Familie den 3 . Geburtstag des Kindes), die Entscheidung, die
Detektivgeschichte
doch zu übersetzen, ist getroffen usw. usw.: Ich weiß nicht, ob ich existiere, ich weiß nicht, wozu ich existiere, ich quäle mich mit der Arbeit und weiß nicht, ob sie nicht überflüssig ist, ich komme mit meinen «Angelegenheiten» nicht zurecht (meiner Korrespondenz, meiner Arbeitseinteilung, der Herstellung eines überschaubaren Rohmaterials): Mit einem Wort, ich quäle mich, und meine Tage gehen unwiederbringlich dahin.
24 . Juli 2004 Samstag, strahlender Sonnenschein, morgens kühl, tagsüber heiß, abends wieder kühl – Berliner Sommer. Mittags war Frau Becker bei uns, wir erledigten die aktuelle Korrespondenz. Dann mit dem Taxi zum Café Einstein, um meine Brille zu holen, die ich gestern dort vergessen hatte; als ich ausstieg, überfiel mich ein solcher Schwindel, daß ich eine Minute lang regungslos in der grellen Sonne stand; entweder hat mein Herz ein Zeichen gegeben oder die Gehirnsklerose, von der sich übrigens auch sonst Symptome zeigen, vor allem auf dem Gebiet des Wortgedächtnisses, Namen und Wörter fallen mir einfach nicht mehr ein.
2 . August 2004 Wenn ich zu arbeiten beginne, wird die Welt zum Feind … – Vorgeschichte: Mittwochmorgen mit dem Flieger nach Budapest, um den fertigen
Schicksallosen
-Film anzusehen; etwa in der Mitte der Vorführung ging mir, teils aus Müdigkeit, teils aus emotionaler Befangenheit, die Objektivität verloren, zwei Tage später spielten M. und ich die mitgebrachte Kassette dann in der Bar des Berliner Hotels Kempinski ab: vollkommenes Glück. Wir priesen den Namen von Koltai, der das Beste aus diesem Stoff gemacht hat. – Danach ein Abend mit dem feinen und gebildeten Durs Grünbein und seiner charmanten Frau; am nächsten Tag brachen wir nach Gstaad auf. Mit dem Flugzeug bis Zürich, dann im Auto weiter, und nach etwa einstündiger Fahrt tauchten allmählich am Horizont die Sägezähne der Bergkette vor uns auf, mit dem
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