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Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Titel: Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Imre Kertész
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versoffenen Dolmetscher und der albernen Journalistin zu berichten, die sich damit brüstete, nicht ein Wort von meinem Roman verstanden zu haben. Ich habe sie häßlich «abserviert», darauf stellte sie ihr ewiges Gekicher ein, intelligenter wurde sie aber nicht.
    25 . Oktober 2004  Der Tag war mit Begegnungen angefüllt. M.s Chicagoer Freundeskreis. Nachmittags spielte Barenboim in der Chicagoer Symphonie aus dem
Wohltemperierten Klavier
. Mit M. bewunderte ich sein Spiel und seine unerschöpfliche Arbeitskraft. – Ausgeprägte Herzbeschwerden. Aus dem Spiegel sieht mir der Kopf eines alten Mannes entgegen. Die typische Vergrößerung des Kopfes, in Relation zum Körper gesehen; gleichzeitig Verhärtung der Züge, der ganze Kopf wird eckig. – Die Angstmacherei vor den Wahlen in Amerika. Man versetzt dieses große Volk in Schrecken, jagt ihm Angst ein, treibt es in die Krise: Das bekannte europäische Rezept der Machtübernahme. Wenn sie glauben, daß sie sich fürchten müssen, werden sie ihre Stimme dem geben, der sie seiner eignen Aussage nach schützt. Ein trauriger Anblick, die Welt im Jahr 2004 . Andererseits wird mir dieser Anblick aus einer Luxussuite des Chicagoer Four-Seasons-Hotels zuteil. – In der kurzen Zeit, die ich noch vor mir habe, muß ich eine Lebensform zurückgewinnen, die zumindest noch ein bißchen daran erinnert, daß ich einmal Schriftsteller war. Niemand hat Nachsicht mit mir, in dieser Hinsicht bin ich wie immer so auch heute allein. Ich muß akzeptieren, daß ich in den Augen derer, die von Liebe zu mir sprechen, mich mit ihren unmöglichen Ansprüchen aber umbringen, als Spielverderber gelte.
    Spätsommerliche Wärme und Sonne in Chicago. Am Vormittag ging ich zwischen Wolkenkratzern zum See. Das Wasser erschien sanft, am blauen Horizont ein Traumschiff. Ich setzte mich auf eine Bank und sog den Duft von Herbst und Wasser ein. Ich dachte an die Ferne und den nahen Tod. Michigan-See oder Saint-Michel – es bleibt sich gleich:
Still schlich sich gestern der Herbst

    26 . Oktober 2004  Gestern abend
Rheingold
in der Chicagoer Lyric Opera. Große Stimmen, gute Vorstellung. Schönes Opernhaus. Museumsmusik. Wagner versetzt mich nicht mehr in Erregung. Vorher hatte ich im Hotel Haydn-Symphonien gehört, auf CD . Und nach dem Getöse der Wagner-Oper kamen mir sogleich Haydn-Motive in den Sinn.
    30 . Oktober 2004  Noch ein Tag in New York. Wieder im Plaza Hotel. Die Aussicht öffnete sich diesmal auf den Central Park, die herbstlichen Bäume, die herrliche Farbenpracht des Verfalls. Der See, darüber ein stilisiertes Brücklein, auf dem See Boote. Nicht weit davon die Kunsteisbahn, ferne Figuren bewegten sich zickzackförmig darüber hin. Am nächsten Tag setzten wir uns mittags ins Flugzeug und kamen todmüde in Berlin an. – Ich habe dem Gesprächsbuch den Titel
Dossier K
. gegeben. In der Nacht den Absatz, in dem es um Zsáki Schmelczer geht, umgeschrieben.
    31 . Oktober 2004  Morgens Dreiviertel sechs. Nächtliches Gespräch mit Vera Ligeti. Ligeti hat den Dialog mit der Welt eingestellt. Musik hört er nur nachts: «Er sagt, am Tag Musik zu hören, ist unmoralisch.» Neuerdings hört er Schumanns Klavierstücke. In der modernen Musik wagt er sich bis Bartók und Strawinsky vor. Zeitgenössische Musik hört er überhaupt nicht; seine eigene Musik interessiert ihn nicht. – Abends war Esterházy bei uns in der Meineke-Straße. Intelligent und – man kann es nicht anders sagen: charmant. Warum kann ich sein Talent nicht beurteilen? Warum müßte ich sein Talent beurteilen? Ich müßte ihn lesen und ihm dabei einen Sympathievorschuß geben; aber nur in Bezug auf seine Bücher, was die Person angeht, mangelt es nicht an Liebe.
    2 . November 2004  Von Zweifeln gequälte Nacht. Ich schreibe meine Biographie zum fünfzigsten Mal um. Lohnt sich das? Warum beschäftige ich mich nicht lieber mit der Lot-Geschichte? Ist meine Phantasie zu träge – gibt es meine Phantasie noch? Ich fürchte große Arbeiten. Und mich reizen große Arbeiten. Sich hinzusetzen, die Kapitel praktisch im Voraus zu veranschlagen, die Geschichte auszuarbeiten. Vielleicht gebe ich dem Drängen Barenboims nach und schreibe sie zuerst als Opernlibretto. Gleichzeitig hat
Die letzte Einkehr
ihre Anziehungskraft nicht verloren. – Ständig körperliche Qualen, Schlaflosigkeit, damit zusammenhängend Herzrhythmus-Beschwerden. Dumpfheit der Welt gegenüber, geschwächte Aufnahmefähigkeit, verminderte Libido,

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