Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
fehlende Liebe. Der Daumen neigt sich nach unten.
4 . November 2004 Vergiß nicht die mächtigen Steinblöcke New Yorks und die gigantische Ausdehnung der Stadt, die in den Himmel ragenden Gebäude, das Wasser, die Inseln und die dort als Vorposten wachende, viel bewunderte und viel gescholtene Freiheitsstatue mit der Fackel, wie wir sie zweimal aus dem Fenster des Flugzeugs erblickten. – Hier in Berlin drei Tage Interviews. Gestern die reizende Ina Hartwig. Die
Detektivgeschichte
ist in einer schönen Ausgabe auf Deutsch erschienen. Mein Gefühl, ganz zur westlichen Welt zu gehören, ist nach dem Ergebnis der amerikanischen Wahlen noch stärker. Ich kann die Welt überhaupt nicht mit ungarischen, osteuropäischen Augen sehen. Als es beim Gespräch mit Ina Hartwig darum ging, wieso die ungarische Literatur den deutschen Geist befruchte, wurde mir auf einmal klar, daß von der exilierten oder der zerstörten bürgerlichen ungarischen Kultur die Rede ist, von jener fragilen Entität, die von der Nation als Fremdkörper ausgestoßen wird. Welch ein Unterschied zwischen meiner qualvoll vorgespielten, falschen Rolle in Ungarn und der hier von mir erfüllten – ich würde fast sagen: Aufgabe! Als sei hier mein Leben real und das, was ich mitbringe, mein Werk: Wirklichkeit. In Ungarn hatte ich diesen Eindruck nie. – Die katastrophalen amerikanischen Wahlergebnisse versprechen eine schlimme Zukunft. José – ein Kind der Diktatur – und ich haben das Auftauchen eines terroristischen Buhmanns im passenden Augenblick des Wahlkampfes vorausgesehen. Welche wahnsinnige Falle ist der Welt gestellt worden, an den Rand welchen Abgrunds ist sie gelockt worden, um des Geldes, der Macht, der Durchsetzung schändlichster Interessen willen. Und die Menschen, die wählen gehen, verstehen nichts davon; das allgemeine Wahlrecht könnte sich für Europa tatsächlich als Verhängnis erweisen.
5 . November 2004 Mit umständlicher Feierlichkeit signiert er ein Buch für den Nobelpreis-Autor.
9 . November 2004 Früher Morgen, mein Geburtstag. Wenn ich vorher 75 Jahre sagte, bezog sich das nicht auf den Geburtstag, sondern den Zustand. Den seelischen und körperlichen Zustand. Vielleicht vergäße ich ihn, ließe man mich in Frieden. Einiges an diesem Zustand ist inzwischen unwiderruflich. Mein Parkinson verschwindet nicht mehr, solange ich lebe. Mein Herz wird nicht mehr besser. Und so weiter … – Die Chronik der vergangenen Tage: Ich kann mich kaum noch erinnern. Auch das gehört zu meinem Zustand: Ich erinnere mich nicht mehr an Namen, ich vergesse langsam meine ganze Bildung. Also: Morcsányis in Berlin. Vorgestern Abendessen mit ihnen und Esterházy im Dressler. Wir aßen Austern. – Ich habe drei Interviews gegeben. Mein Leben steigt in immer unwahrscheinlichere Sphären auf (oder sinkt herab?). Es gibt keinen Ausweg aus dem zerbrechlichen Käfig meines physischen Seins; ich werde immer gefühlloser gegenüber anderen, meine Empathie schwindet.
12 . November 2004 Ich kann mich des Gefühls nicht erwehren, daß alle um mich herum lügen. (Ich denke an die «Freunde», die «Gesellschaft».)
14 . November 2004 Noch immer im Taumel des 75 . Geburtstags. Von der Feier am 9 . (in der Villa Griesebach) kamen wir am Morgen des 10 . nach Hause. Eine Flut von Briefen; alle führenden Politiker Deutschlands haben Grüße geschickt. Mittagessen mit Mádl in der ungarischen Botschaft; er überbrachte mir eine Plakette des Sándor-Palais. Ich benehme mich wie ein arrivierter Schriftsteller, verzeichne die Namen wichtiger Leute, meine Auszeichnungen. Erstickend. Die deutschen Briefe heben einhellig hervor, daß ich «viel für Deutschland getan» hätte; heute im Kempinski bin ich – im Beisein von Péter György, Béla Bacsó und Miklós Almási – von Karasek, dem Kritiker, aber auch noch vom Kellner umarmt und abgeküßt worden. «Hier liebt man dich», sagte Almási. Das ist wahrscheinlich das Geheimnis. Ich würde auch gern für Ungarn «etwas tun», doch dort liebt man mich nicht. – Heute vormittag werden im Brecht-Theater deutsche Autoren aus meinen Büchern lesen. (Eine Idee des Suhrkamp Verlags, genauer gesagt von Ulla.) Ich kann nicht schlafen, leide an Herzrhythmusstörungen, halte mich kaum auf den Beinen und tue nichts. Selbst wenn ich drei Tage lang Briefe schriebe, könnte ich das, was zu beantworten ist, nicht alles beantworten. – Heute Koltai in Berlin; ich holte ihn vom Flughafen ab, dann aßen wir
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