Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
denen ich zu Hause nicht zu Rande gekommen war: Es geht darin um die jüdische Verantwortung im Hinblick auf die Rákosi-Bande, genauer um die Ablehnung dieser Verantwortung. Die Diskette, die sie mir im Hotel ausdruckten, habe ich mit «Schinderei» betitelt. Magda las das ganze Material durch, gab Kommentare dazu, aber im ganzen ist sie, wie ich sehe, von dem Unternehmen nicht begeistert. Das hat mir die Freude einigermaßen verdorben, dazu mein ohnehin immer bereitstehendes destruktives Mißtrauen geweckt. Jetzt – morgens vier Uhr dreißig – habe ich alles durchgelesen: Ich für meinen Teil finde das Vorliegende in Ordnung. Ich weiß nicht, ob es klug war, sich auf dieses Abenteuer einzulassen – das ist natürlich eine andere Frage. Schriftsteller pflegen sich vor dem Tod in ihre Autobiographien zu verwickeln, wenn die dichterische Ader schon so dünn geworden ist, daß sich zwischen den verkalkten Wänden kaum noch eine Metapher herauspumpen läßt. Am Abend an die Lektüre von Sebalds Améry-Studie gesetzt. Für Derartiges bin ich immer noch empfänglich. – Was gibt es noch? Die Palmen und das Meer, die sich ins Unendliche öffnende Aussicht, die den Blick verführt, einer sanftmütigen Prostituierten gleich, die uns haltlose Versprechungen ins Ohr flüstert: Lächelnd hören wir zu, doch quasi schon mit dem Schierlingsbecher in Händen.
30 . Dezember 2005 Über Nacht ist ein Wetterwechsel eingetreten, mit starken Rückenschmerzen einhergehend; der Nordwestwind hat sich gedreht, und über Madeira ist ein klarer warmer Tag erwacht. Vormittags ging ich mit Magda zu den Schwimmbecken hinunter, hätte gern in Sebalds Jean-Améry-Studie weitergelesen, doch im benachbarten Liegestuhl quasselte ein französischer Bursche ununterbrochen in seiner Muttersprache; später kriegte er Besuch – ein offenbar aus Marokko stammender Franzose –, und es wurde noch lauter gebrüllt. – Ich darf nicht vergessen, wie es ist, in die Unernsthaftigkeit verbannt worden zu sein.
2005
8 . Januar 2005 In der Zwischenzeit? Ankunft in Budapest, die Tage dort … ich fühlte mich nicht so schlecht wie sonst. Permanente Rückenschmerzen. Am 6 . abends nach Berlin zurück. In meinem Turmzimmer das Gefühl von Zuhause. Das Schreiben an
Dossier K.
beherrscht die Tage. Trotzdem habe ich manchmal das Gefühl, als sei das Schreiben so eine Art Betätigung wie das Spielen für Kinder: Ich muß es mehr oder weniger heimlich betreiben, die Blätter mit der Hand verdecken, ständig darauf gefaßt, daß mir gesagt wird: Es gibt Wichtigeres zu tun, die Wäsche muß in die Reinigung gebracht werden. Dann breche ich das Spiel augenblicklich ab und springe … Im übrigen sind 71 Seiten vollkommen fertig.
9 . Januar 2005 Gestern abend über Szomorys Tod gelesen. Eine schwärmerische Stimmung ergriff mich; ich las Hédi Tabérys erschütternden Bericht laut vor (mit heiserer Stimme, schlechter Atmung), und M. schlief dabei ein. Wie lächerlich muß ich mit meiner Begeisterung sein, wie ein unverbesserliches Kind mit seinen verschrobenen Spielen. Wenn ich könnte, würde ich eine monumentale Studie über Szomory schreiben, über diesen phantastischen Psychopathen und großen Künstler, überhaupt darüber, daß für den Künstler in dieser Welt kein Platz mehr ist. Wie ist dieser Platz verlorengegangen, und was ist an seine Stelle getreten? Bei mir Auszeichnungen und Preise … Du willst dich doch nicht beschweren?! Aber wenn ich daran denke, mit welcher Begeisterung M. am Anfang unsrer Bekanntschaft meinen geistigen Eskapaden gefolgt ist! Und jetzt teilt sich meine Rolle auf in die des arrivierten Alten und die des unbeholfenen alten Trottels, den ich in dieser realen Welt darstelle, mit meinen Kopfhörern über den Ohren, aus denen Scherchens Beethoven-Aufnahmen erschallen … Solange ich in meiner Verrücktheit ausharre, bleibe ich bei Verstand … Ich darf nur nicht zulassen, daß ich als 75 jähriges Kind für die Welt der «Erwachsenen» zugeritten werde. Der Morgen dämmert, es ist Viertel vier – wie viele Morgendämmerungen erwarten mich wohl noch?
14 . Januar 2005 Holocaustmüde. Ich bin holocaustmüde, sagte ich zu dem Typen: Dr. Parkinson wird schlimmer. Ich halte es nur solange mit ihm aus, bis wir heimkehren. – Der Film zum
Roman eines Schicksallosen
ist bei der Berlinale abgelehnt worden. Interessant. Ich kann hier noch ein oder zwei merkwürdige Dinge erleben.
19 . Januar 2005 Aus Zürich zurück. Mit
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