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Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Titel: Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Imre Kertész
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Ich war erschüttert. Er bat um das Manuskript, an dem ich gerade arbeite. Ich schickte ihm 49 Seiten von
Dossier K.
. Nun darf ich also auf die «Kritik» warten.
    2 . Dezember 2004  Nächtliche Fortschritte in
Dossier K.
Gestern ein Brief von Dani Karavan, mit der Bitte, ich möge an etwas teilnehmen, woran ich nicht teilnehmen will. Es geht um den israelisch-palästinensischen Konflikt. Habe es gründlich durchdacht: Ich habe nicht genug Informationen. Ich bin europäischer, nicht israelischer Staatsbürger. Mit Auschwitz und dem Kommunismus habe ich fundamentale Erfahrungen gemacht, darüber weiß ich etwas. In den Palästinakonflikt stiege ich ein wie, sagen wir, Sartre ins chinesische Ich-weiß-nicht-Was eingestiegen ist. Genau gegen diese Art von Pseudo-Engagiertheit protestieren mein Verstand und alle meine Sinne. Andererseits sehe ich ein, daß an das Schicksal Israels auch das meine gebunden, ja, gefesselt ist. Ich weiß nicht, was ich tun soll. – Etwas anderes: Fast zufällig habe ich Beethovens Quartett op. 95 aufgelegt. Ich hatte seit Monaten, vielleicht seit einem Jahr nichts mehr von Beethoven gehört. Und nun, da ich wieder angefangen habe, weiß ich, ich werde nicht wieder aufhören können.
    8 . Dezember 2004  Mittwoch. Die 60 Seiten, die ich von
Dossier K.
geschrieben habe, sind vielversprechend. Unverändert körperliche Beschwerden, vor allem Schlaflosigkeit, Tremor. Heute erwartet mich ein schreckliches Interview für den Sender Arte. – Habe mir ein paar Nachschlagewerke gekauft, ein deutsch-deutsches und ein ungarisch-ungarisches Wörterbuch und ein kleines Brockhaus-Lexikon. Mein Name kam darin sogar zweimal vor, im Nobelpreis-Artikel und bei der regulären Namensfolge; im Abschnitt über die Literatur Ungarns aber – den man offenbar von jemand mit Ungarischkenntnissen schreiben ließ – wurde er ausgelassen.
    13 . Dezember 2004  Das Arte-Interview ist letztlich gut gelaufen. Chaotische Tage, Gäste, das vor Weihnachten übliche Irrenhaus. Am 16 . muß ich nach Budapest, von dort nach Madeira, um Ferien zu machen, erst danach kann ich wieder nach Berlin zurückkehren. Langes Gespräch mit Fest bei Diekmann. Er hat
Dossier K.
unter Vertrag genommen. Unsere Beziehung wird immer persönlicher, ich habe diesen gebildeten und angenehmen jungen Mann liebgewonnen. Es wird schwer, Suhrkamp zu verlassen. Aber diese Fragen gehören nicht ins Tagebuch. Viel wichtiger ist, daß ich
Dossier K
. noch immer interessant finde und die Arbeit gern fortsetzen möchte.
    15 . Dezember 2004  In der gestrigen Nacht las ich die vorhandenen 28 Seiten der
Letzten Einkehr
und sann anschließend darüber nach, daß das Buch eine zentrale Figur brauchte, die eine Geschichte hat. Ich dachte an irgendein morbides Abenteuer. Heute ist mir klargeworden, worin dieses Abenteuer besteht: Ich muß die Geschichte eines Erkaltens, eines Leerwerdens schreiben. Wie das Schreiben vergeht, wie die Liebe vergeht. Wie das Leben vor den Augen des Helden entfliegt. Da wird verschiedentlich Selbstzensur einsetzen, zum Beispiel mit Rücksicht auf Magda. Aber ein Künstler, der sich im klaren ist über die Forderungen seines Berufes, kann auf niemand Rücksicht nehmen. Und tut er es doch, ist er kein Künstler mehr, sondern SchriftSteller. – Morgen fliege ich nach Budapest.
    18 . Dezember 2004  Am Morgen nach meinem Geburtstagsempfang. Viele Freunde. M.s Liebe – Liebe an sich: was weiß ich davon? Bücher von Spiró und Földényi. Seit einiger Zeit schlittere ich ohne Zweifel bergab, entferne mich von meinen Idealen, von Idealen überhaupt, sogar von Ideen. Földényis Buch über «die Nachtseite der Malerei», über Friedrich, Goya und Blake. Zurückkehren in die Welt der Begeisterung, der
Durch
geistigung. – Mir wurde viel Liebe entgegengebracht. Die schöne Begrüßung von Kállai. Meine Hand zitterte die ganze Nacht, mein Rücken beugte sich. Meine Seele weichte auf wie ein Schwamm. Wenn der Skulpteur zur Skulptur wird. Genug, weiterblättern, vom Tagebuch zurück zu den produktiveren Gattungen.
    29 . Dezember 2004  Auf Madeira pfeift Nordwind, und es ist kalt. Der Atlantische Ozean sah vom Flugzeug aus wie eine geschmolzene Metallplatte, auf der erstarrten Oberfläche weiße Ausstülpungen: die Wellenkämme. Ich setzte sozusagen auf der Stelle die Arbeit an
Dossier K.
fort und schrieb heute mittag, während Magda die Sonne und das erwärmte Meerwasser in dem kristallklaren Becken genoß, etwa zwei Seiten, mit

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