Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
im Ottenthal zu Abend, schließlich hörten wir uns hier oben in meinem Arbeitszimmer eine CD mit Morricones Filmmusik an; sie gefiel mir sehr.
19 . November 2004 Morgendämmerung am Computer (halb vier). Ich habe das Material für Trier vorbereitet (wo ich am Abend aus
Liquidation
lese). Gestern abend ist Magda aus Budapest zurückgekommen. Ich liebe sie. Von der vergangenen Woche kann ich kaum etwas berichten; habe es geschafft, zwei Briefe hinzukriegen, an den Bundeskanzler und an den Berliner Bürgermeister. Bei Barenboim zum Geburtstag, am Tag darauf in seinem Konzert. Zweifellos wird er mir mit Vorschlägen kommen: Er will mich in seinen politischen Windmühlenkampf ziehen. Ich möchte mich nicht gegen Israel wenden, auch wenn mich dessen Politik irritiert – die Politik überhaupt. Den Artikel für die
Neue Zürcher
habe ich abgesagt, obwohl ich meine Meinung zu den voraussichtlichen Veränderungen, die uns bevorstehen, gern darlegen würde. Es bricht eine mörderische Welt an, Nationalismus, Rassismus; Europa beginnt zu erkennen, wohin seine liberale Einwanderungspolitik geführt hat. Plötzlich wird man gewahr, daß es Fabelwesen, die man multikulturelle Gesellschaft nennt, gar nicht gibt. Eine interessante, paradoxe Sackgasse: Während die Europäische Union erweitert wird, schnüren sich die einzelnen Unionsländer enger zu. Die zu erwartenden Gesetze stehen im Widerspruch zur Verfassung der Union, doch wer wollte ihre grundlegende Bedeutung leugnen. Das Problem ist, daß man nicht differenziert: indem etwa gesonderte Gesetze für die einheimischen Bürger gelten und sich andere auf die Muslime beziehen. Doch das wäre Ausgrenzungspolitik. Wiederum ist es unmöglich, sich vorzustellen, daß, sagen wir, Frankreich in zwei bis drei Generationen ein muslimisches Land sein wird. Politiker, die von den durch die allgemeine Angst und Hysterie entfesselten Emotionen aufgewühlt sind, werden die Situation eher zur Erhaltung ihrer eigenen Macht nutzen wollen, als sich die Köpfe über wirkliche Lösungen zu zerbrechen. Direkt gesagt: es tut sich die Möglichkeit neuer Diktaturen auf, die unter dem Vorwand drohender Gefahren in erster Linie die eigenen Staatsbürger in Gefahr bringen. Vor derartigen Problemen steht die zivilisierte Welt, und es ist nicht möglich, öffentlich zu ihrer Verteidigung aufzutreten, weil man dann auf der Straße erschossen wird (siehe den Fall Theo van Gogh). Andererseits ist es die große Frage, ob der gerade wiedergewählte amerikanische Präsident zur zivilisierten Welt gehört. Nun, mit solchen Fragen müßte man sich ernsthaft auseinandersetzen – allerdings nicht mehr ich, der ich gern noch auf Papier bringen möchte, was in meinem Ranzen zappelt.
23 . November 2004 Es kann und darf nicht sein, daß ich mir die Freude nehmen lasse. Es kann und darf nicht sein, daß ich mich zum Sklaven meines eigenen Firmennamens machen lasse. Daß ich mein Leben mit Briefeschreiben und häuslichen Problemen verbringe; daß ich frühmorgens nicht mit der Freude des Beginnens, sondern mit den Problemen von Bauch-und Rückenschmerzen aufwache. Zurück zu einem schöpferischen Leben! – darüber sprachen Magda und ich heute in der Morgendämmerung im Bett. – Langsam erwacht der Morgen über den Dächern von Berlin. Ich habe Strawinskys
Symphonie in drei Sätzen
aufgelegt. Heute mittag um zwei sehen wir uns – mit beiden Verlegern und Ingrid – den
Schicksallosen-
Film an. Vom heutigen Morgen an werde ich ein neues Leben … zumindest versuchen. Alle nötigen Umstände wären dafür vorhanden, und eigentlich müßte auch meine Physis noch soweit brauchbar sein, mich aufrechtzuhalten, ganz so, wie ein altes Kamel die schweren Bündel trägt, die über seine Seiten herabhängen.
25 . November 2004 Vorgestern der Film im Konferenzraum der EuroArt. Der Eindruck von Kino. Ich weiß nicht, ob ich noch etwas zu tun habe mit dem
Roman eines Schicksallosen
– das ist keine authentische Fragestellung. – Morgens sechs Uhr. Noch habe ich den ersehnten Lebensstil nicht gefunden, obgleich ich gestern
Dossier K.
durchlas und das fertige Material sehr gut fand. Aber noch hat mich nicht die
Besessenheit
erfaßt, der schriftstellerische Wahnsinn, der einst alles löste.
29 . November 2004 Vor vier oder fünf Tagen mit Ligeti telefoniert. Vera hatte ihm überraschend den Hörer überreicht. Er redete wie in alten Zeiten. Mit Liebe, Interesse und der vertrauten Stimme, als wäre er nicht krank.
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