Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
nur deshalb, weil sie für dich vorteilhaft sein kann, noch nicht wahr. Wenn du gerecht sein willst, mußt du also alle Aussagen, die nachteilig, eventuell sogar schädlich für dich sind, gründlich prüfen. – Fragen kommen auf, etwa: Ist zum Beispiel die Krankheit eine Aussage? Und wenn ja, wer sagt damit was aus? (Und so weiter bis zur Absurdität, oder vielleicht: ins Absurde.)
Gestern eine Dame (auf Deutsch): «Ich lese Ihr
Galeerentagebuch
. Es ist wie ein Gebetbuch.» – Bis jetzt das schönste Kompliment, das mir für dieses Buch gemacht worden ist. Die Dame war übrigens katholisch (und, denke ich, gläubig). – Dann das Konzert (in der Musikakademie); ein ungewöhnlicher Dirigent, Davies, ein Amerikaner: Er hatte die Musik einfach auf die Spitze seines Stäbchen gesteckt. Sowie er es ein wenig hob, senkte oder schwingen ließ, hob oder senkte sich oder schwang die Musik – nie bewegte dieser Stab sich leer, ohne Bedeutung.
11 . Mai 2001 Ungarn: Antisemitismus als einziger Konsens des herrschenden rechten Lagers. Das Ganze ähnelt auf lachhafte Weise den dreißiger Jahren. Da hatte sich der Antisemitismus mit Irredentismus assoziiert, der zwar auch jetzt noch vorhanden ist, aber – mit Rücksicht auf das westliche Ausland – immer unterschwelliger. Es ist nicht ausgeschlossen, daß es schließlich mit dem Antisemitismus genauso gehen wird. Warum erfüllt mich diese Möglichkeit nicht mit dem gleichen beispiellosen Optimismus, wie er für die hiesigen Assimilierten charakteristisch ist? In erster Linie, weil bis dahin irreparable Schäden im Sprachgebrauch, also in der Denkweise und der Mentalität angerichtet sein werden; außerdem hat man mir die Solidarität mit diesem Land so weit ausgetrieben, daß mich jede Gefahr und jede Chance, die hier bestehen, gleichermaßen mit Ekel erfüllen.
M.s morgendliche Berichte darüber, was ich unter dem Einfluß der Schlaftabletten anstelle. Heute bin ich bei Tagesanbruch aus dem Bett gefallen (ich hatte am Rand des Bettes geschlafen und mich nach außen gedreht – daran erinnere ich mich noch irgendwie). Die Ärmste mußte sich dann lange plagen, um mich wieder hochzukriegen und ins Bett zu packen. Dabei soll ich Dinge gesagt haben wie: Gyula Krúdy – auf solche Autoren stürzen sich die ausländischen Verlage. Und M., beschwichtigend: «Das werde ich schon machen!» Dann bekam ich einen Niesanfall, zerriß Taschentücher, streckte den Arm in die Höhe und so weiter. Und während meine Frau mir fürchterliche Dinge in Aussicht stellte und vollkommen verzweifelt war, wurde ich von einem unbezwingbaren Lachkrampf gepackt. Es scheint, die Schlaftabletten rufen bei mir Symptome von Trunkenheit hervor, und betrunken bin ich anscheinend ein lustiger Bursche; zumindest tritt in diesen Berichten nie ein latent schlechter Charakter oder ein unangenehmer Wesenszug hervor. Das ist jedenfalls eine bessere Nachricht, als es das Gegenteil wäre; es scheint, ich bin nur nüchtern mürrisch und des öfteren unannehmbar.
13 . Mai 2001 Nietzsche: Ein verheirateter Philosoph gehört in die Komödie. Das philosophische Dilemma: Dann stellen wir also das Denken am Wochenende ein?
15 . Mai 2001 Die «Geheimdatei» gelesen: Fürwahr, hier gibt es keinerlei Geheimnisse. Wo ist mein Radikalismus geblieben? Ich würde verzweifeln, wenn ich nicht wüßte, daß er im Roman noch vorhanden ist.
Einem dummen, verleumderischen Artikel zufolge soll ich einer holländischen Zeitung gesagt haben, «ich lebe nicht aus Überzeugung hier, mein Koffer ist immer gepackt». Daß ich nicht «aus Überzeugung hier lebe»? Einen solchen Unsinn habe ich mit Sicherheit nicht gesagt. Man lebt nur an sehr wenigen Orten gewissermaßen aus Überzeugung. Sagen wir, unter den Israelis leben viele wirklich aus Überzeugung in Israel. Aber in Ungarn? Hier wird man zufällig geboren und bleibt dann entweder am Leben oder nicht. Von Überzeugung kann keine Rede sein.
16 . Mai 2001 Gestern abend Zusammenbruch (beim Lesen des fertigen Romanteils). Nach meinem Empfinden ist alles verfehlt, der Text rattert so leer dahin wie eine kaputte Dreschmaschine, die man erst gar nicht mehr mit Getreide füllt. – Andererseits die Erleichterung, die stets mit einem solchen Urteil einhergeht; diesmal ist in dieser Erleichterung aber auch etwas davon zu spüren, daß das Urteil vielleicht noch nicht endgültig ist.
Ein äußerst schlechtes Zeichen, daß ich mir derart unsicher bin. Wenn ich mich richtig
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