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Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Titel: Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Imre Kertész
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wach in Szigliget, wie oft dämmerte dort vor meinen Augen ein Maimorgen herauf. Ich bin nicht glücklich. Aber ich bin glücklich.
    Celan ist in einem Anfall von Wahnsinn über seinen Pariser Nachbarn hergefallen, weil er glaubte, daß der seinem Sohn etwas angetan habe. Als man ihn auf die Polizeistation brachte, schrie er: «Ich bin Franzose! Ich bin Franzose!» Doch er war nur Jude. Sie taten ihm dennoch nichts. Sie lieferten ihn in eine psychiatrische Klinik ein.
    Wie ist es möglich, daß
ich
bis jetzt noch nie wahnsinnig geworden bin? Oder bin ich wahnsinnig?
    25 . Mai 2001  Ob die Metaphysik (in unserem Denken) eine Daseinsberechtigung hat oder nicht, ist nebensächlich. Tatsache ist, daß «der Mensch» metaphysisch verlassen worden ist; das ist der Seelenzustand des heutigen Menschen, und es ist ein gefährlicher Zustand.
    Das gestrige Gespräch mit V. Eine großartige, äußerst gebildete, lebendig denkende Frau: Doch sie ließ nicht einmal die Erwähnung der jüdischen Mystik zu. Sie war unheimlich erbost über eine ungarische Pfeilkreuzler-Zeitschrift, die ihr jemand nach Wien mitgebracht hatte. Aber daß ihre Reflexionen situationsbedingt sind, das heißt, ihre Affekte von etwas bestimmt, das vielleicht nicht ganz sie selbst ist, vielmehr bedingt durch eine durchschaubare Situation, mit der sie, wenn man so will, nicht metaphysisch, sondern nur gesellschaftlich (also singulär, «zufällig») etwas zu tun hat – diese Tatsache wollte sie auf keinen Fall anerkennen. – Das ist freilich noch keine jüdische Mystik: Es wäre nur die Anerkennung eines zwangsläufig gegebenen Verhältnisses zum Judentum – aber meist ist den Menschen selbst das schon zuviel. Obwohl erst danach alles weitere folgen würde. Die mystischen Neigungen eines Menschen schließen im übrigen nicht aus, daß er rational denkt.
    26 . Mai 2001  Mein Verhältnis zur ungarischen Sprache ist ähnlich wie das zu meinem Computer. Ich benutze beide als Instrument, ich liebe die Willfährigkeit, Flexibilität, Findigkeit, Handhabbarkeit usw. dieses Instruments, bin für all das sogar dankbar. Aber ich erforsche nicht seine Metaphysik, und nur weil ich es benutze und das außer mir noch viele andere tun, habe ich nicht das Gefühl, einem Computer zuzugehören bzw. einem Land, das gleichzeitig auch meine sogenannte Heimat wäre. Ich kann mir vorstellen, an einem anderen Computer zu arbeiten, so wie ich mir vorstellen kann, in einer anderen Sprache zu schreiben; leider kann ich das nicht mehr in Wirklichkeit tun, jedoch keineswegs aus sentimentalen Gründen, sondern weil ich zu alt bin und keine Zeit mehr habe, eine andere Sprache zu erlernen. Und das bedaure ich häufig sehr; ja, ich halte es für einen grundlegenden Fehler, daß ich nicht die Sprache einer großen europäischen Kultur benutze, sondern die ungarische, in der ich vergeblich zu den Ungarn spreche, während ich zu allen Anderssprachigen nur durch Vermittler, das heißt Verzerrer sprechen kann, so als spräche ich in ein verstopftes Mikrophon.
    2 . Juni 2001  Etwas trübe Tage. Mancherlei Kränkungen. Es ist schon die Haltung, die verletzt. Ich war gezwungen, einen Brief an meinen ungarischen Verleger zu schreiben, der meine Bücher zwar herausgibt, aber dann so gründlich über sie schweigt, als existierten sie überhaupt nicht. – Die andere Quelle von Kränkungen: Es wird hier zur Zeit viel darüber geredet, wie – bzw. wie nicht – der Holocaust zu seinem Namen kam, und nie, in keinerlei Kontext erwähnt man dabei mich oder bezieht sich auf ein Wort von mir, so als hätte ich nie etwas über diesen Gegenstand geschrieben, als gäbe es mich überhaupt nicht. Man verurteilt mich zur Nichtexistenz, und dabei handelt es sich vor allem um liberale und jüdische Autoren, die nicht wissen, wohin sie sich mit ihren jüdischen Nasen, Schmerbäuchen, Glatzköpfen oder Krauslocken verstecken sollen, und die es über alle Maßen irritiert, daß auch ich noch da bin mit meiner eigenen radikalen Meinung, die im strikten Gegensatz zu ihrer duckmäuserischen Chamäleonmentalität steht. – Das Kleinliche und Lächerliche dieser Kränkungen mit empfinden. Es macht mich so klein, wie es das kleine Volk dieses Zwergenreiches ist.
    3 . Juni 2001  Gestern L. K. Die gleichen Symptome wie bei mir (ohne das Judensyndrom, denn er ist kein Jude), nur daß es bei ihm an sein Auskommen geht, kurz: Man bringt einen erstklassigen Autor um, weil er sich nicht manipulieren, für das System

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