Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
entsinne, ist das vorher noch nie vorgekommen. Kann sein, ich muß der Tatsache gefaßt ins Auge sehen, daß ich die Fähigkeit zur plastischen Darstellung verloren habe. Das ist nicht unvorstellbar und eigentlich auch keine Schande. Es fällt nur schwer, sich damit abzufinden.
18 . Mai 2001 Der hysterische Romancier, der ich bin, ahnte richtig, daß das Urteil nicht endgültig ist. Aber er muß sich immer in übertriebene Verzweiflung stürzen, weil das der einzige Weg für ihn ist. Frag nicht, warum. Aber der Instinkt funktioniert noch immer, wie ein Souffleurkasten, aus dem nicht immer alles deutlich zu vernehmen ist, Charakter, Klangfarbe, Tempo und Rhythmus des Geflüsters aber das Wesentliche verraten. – Gestern und vorgestern habe ich das vorhandene Material nahezu Tag und Nacht gestrafft und korrigiert. Jetzt schnurrt es wie eine Teufelsspindel.
Warum sollte ich die deutsche Staatsbürgerschaft annehmen? Doch warum nicht? Ich bin weder Deutscher noch Israeli noch Ungar. Ans Deutsche habe ich die stärkste kulturelle Bindung, da ist mein Publikum, da ist mein Verlag; allein mit Israel verbindet mich Solidarität, soweit ich sie überhaupt für ein Volk oder eine Nation empfinden kann, meine Bindung an Israel ist eine ganz und gar emotionale; an Ungarn bindet mich außer der Sprache nichts, weder Solidarität noch Liebe: dieses Land, das ich verlassen muß, bevor es mich seelisch krank macht mit seinem falschen Wertesystem, seiner für mich unannehmbaren Moralität.
20 . Mai 2001 Gestern (oder vorgestern?) habe ich mich plötzlich an die Rede für November gesetzt:
Von der Freiheit der Selbstbestimmung
. – Ungewöhnliche Aktivität; mitunter Herzbeschwerden, Lebensfieber. Gutes Leben, viel Verdruß: die Politik, die mich in meinen späten Jahren aus diesem Land vertreiben wird. Aber das ist schon anderen so ergangen und war nicht unbedingt zu ihrem Schaden. Ich wollte nicht, daß dieser Eintrag zur Klage wird; es gibt keinen Grund zu klagen, denn ich bin glücklich, mögen es die Menschen und die Götter hören.
22 . Mai 2001 Zurück zum Roman. In diesem hinfälligen Alter, in dieser hinfälligen Welt, solange sie noch besteht und es mich noch gibt, interessiert mich allein der Roman und nichts als der Roman. Ist das nicht sonderbar? Was für eine Besessenheit, die mein Leben beherrscht und es zu einem gesegneten macht.
Gestern dieser Deutsche; er kam aus Hamburg und wollte unbedingt über «das Buch» mit mir sprechen, den
Roman eines Schicksallosen
. Wir unterhielten uns eine Stunde lang. Die schwere Bürde der Deutschen, die sie schon ganz entkräftet schleppen. Die Deutschen und die Juden. Alle anderen haben es vergessen – falls sie es denn irgendwann einmal gewußt haben.
24 . Mai 2001 4 Uhr 03 . O diese bezaubernden Briefe Gisèles aus Rom, wie traurige einsame Sonaten. – Heute nacht versinke ich in Celans Leben, diesem großen und traurigen Leben. Das Judentum durchdringt hier alles in einer Form und Tiefe, daß ich dem kaum noch zu folgen imstande bin bzw. so etwas wie eine starre Weltanschauung darin sehe, etwas, was der Dichter, der Mensch, braucht, um sich der großen Traurigkeit der Welt und dem großen Wunder des Lebens hinzugeben. Welch ein Zartgefühl, welch weiblicher Zauber gehen von dieser Frau aus, die wahrscheinlich von Paul zerstört wurde, so wie es wohl das männliche Schicksal auf dieser Erde ist, jede Zartheit, jede Schönheit zu zerstören, alles was schwächer oder zerbrechlicher ist als er selbst. Ich kenne niemand, der es vermocht hätte, sich diesem Verhängnis entgegenzustellen. Und all das nur, damit er sich anschließend gegen sich selbst wenden kann; wieviel unartikulierte Sehnsucht rebelliert in mir – wogegen? Ich fühle mich, als hätte ich nie gelebt; ich hatte nie an einer bestimmten Art Lebensabenteuer teil. Ich war nie heimatlos, hatte nie eine irgendwo weit entfernt wohnende Familie, war nie von dem Gefühl gequält, für eine solche Trennung Verantwortung zu tragen. Wie vertraut ist mir dieses Leben, Celans Leben; die Frau, die ihn liebt, die mit ihm zur Jüdin wird, die an dieser vergeblichen Liebe kaputtgeht. – Heute lebe ich sehr fern von allem, was lebendig ist, tief versunken in das Verfertigen von Texten, die ich überrascht und glücklich lese – ich verstehe sie nicht immer, aber sie fließen aus meiner Feder, einer Feder namens Computer.
Draußen dämmert es, die Vögel heben zu singen an. Wie viele Nächte verbrachte ich damals
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