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Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Titel: Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Imre Kertész
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gebrauchen läßt; er wird ausgegrenzt, abgesondert, und ich kann jetzt schon eine furchtbare Tragödie an seinem Gesicht ablesen. Die ganze Nacht hat mich dieses Gesicht begleitet.
    4 . Juni 2001  Merkwürdig, daß ich die Entstehungsgeschichte von
Kaddisch
in einem späteren Roman, in
Liquidation
, beschreibe. Aber war es mit dem
Roman eines Schicksallosen
nicht auch so?
    Was meine literarische Zugehörigkeit betrifft, sind ein paar Tatsachen festzuhalten, damit ich nicht im Irrtum lebe. Ich gehöre nicht zur ungarischen Literatur und werde auch nie dazugehören. In Wirklichkeit gehöre ich zu jener in Osteuropa in Erscheinung getretenen jüdischen Literatur, die in der Monarchie und dann in den Nachfolgestaaten hauptsächlich auf Deutsch, aber nie in der Sprache der jeweiligen nationalen Umgebung geschrieben wurde und nie Teil der nationalen Literatur war. Diese Linie läßt sich von Kafka bis Celan ziehen, und wenn es möglich ist, sie weiter zu verfolgen, dann wäre sie mit mir fortzusetzen. Mein Unglück ist, daß ich ungarisch schreibe; mein Glück wiederum, daß meine Arbeiten ins Deutsche übersetzt werden – selbst wenn die Übersetzung nur ein Schattenbild des Originals sein kann. So kurios die Tatsache auch ist, aber letztlich gehöre ich zu jener in schlechtem Deutsch entstandenen Literatur, die von der Ausrottung der europäischen Juden erzählt, die Sprache ist zufällig, und welche Sprache es auch ist, sie kann nie Muttersprache sein. Die Sprache, in der wir sprechen, lebt nur so lange, wie wir erzählen; wenn wir verstummen, geht auch die Sprache verloren, falls nicht eine der großen Sprachen sich ihrer erbarmt und sie quasi zu sich erhebt. Eine solche Sprache ist heute das Deutsche. Doch auch die deutsche Sprache ist nur zeitweilige Herberge, vorübergehender Unterschlupf für die Obdachlosen. – Es ist gut, das zu wissen, gut, sich mit diesem Wissen abzufinden, gut, zu denjenigen zu gehören, die nirgends dazugehören, es ist gut, sterblich zu sein.
    15 . Juni 2001  Vom 8 . bis 14 . Berlin. Ligeti. Unseld. Aimard. Hans Magnus Enzensberger. Seine Laudatio. Tiefe Ergriffenheit; zugleich Angst vor der Rührseligkeit des Alters, die bei jedem guten Wort in Tränen ausbricht; diese senile Eitelkeit ist eine große Gefahr, jetzt aber war ich wirklich eher über den Text gerührt als über mich selbst. Sollte tatsächlich etwas Originelles in meinen Arbeiten sein? Wenn ich arbeite, halte ich mich damit selbst hin, doch sobald ich nach dem Arbeitsrausch ernüchtere, glaube ich nicht mehr daran. – Ligeti; seine ergreifende Zerbrechlichkeit. Der Geist ist genial und robust, der Körper deprimierend hinfällig. Dennoch hält ihn dieser Körper aufrecht, er muß mit diesem Körper zurechtkommen, wenn er leben will. Und siehe da, er beherrscht die sich widersetzende Physis. – Ansonsten: die Aufregungen der Stadt. Die «Potsdamer Platz»-Ausstellung, Kirchner, Munch, Dix etc. Untertitel: Preußens Untergang – überwältigende Bilder, so überwältigend wie dieser Untergang selbst. Die Komposition des Ganzen verlieh den ohnehin aufwühlenden Bildern einen seltsamen Nachdruck. – Übrigens hat Kirchner – und nicht nur er – das gemalt, was ich im
Spurensucher
beschrieben habe, und zwar im Kapitel «Stoßzeit». Die Großstadtapokalypse als die normale Sprache des deutschen Expressionismus. – Wieder tauchte die Frage meiner (Nicht-)Zugehörigkeit auf, ich erprobte den Essay bei mehreren Leuten, und alle zeigten ein entschiedenes Interesse daran.
    16 . Juni 2001  Gestern bei Esterházy; im Garten, die Gesichter im Schattenspiel von Pflanzen und Lampenschein; alles wirkte in diesem Dämmerlicht schön, mild und unwiederbringlich, wie auf dem letzten Bild eines großen Malers. Die Gesichter waren schön, als wären es nicht die gewohnten Gesichter ihrer Besitzer. Der Abschied verändert alles. Allein schon für solche Momente lohnt es sich, noch ein bißchen zu leben.
    Das Alter, wenn es nicht mit besonderen materiellen Sorgen gepaart ist, macht uns frei von allen Wirrungen, erhebt uns über alle kleinlichen Verhältnisse, alle Jämmerlichkeiten; in einem gewissen Sinne bedeutet Alter auch Freiheit.
    Ich bin kein Humanist, alles menschliche Fühlen ist noch in mir erhalten geblieben.
    17 . Juni 2001  Gestern abend meine Verblüffung, als ich die Pilinszky- CD auflegte und auf einmal seine so vertraute Stimme ertönte: Er sprach über Auschwitz und sagte fast Wort für Wort das, was ich kürzlich

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