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Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Titel: Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Imre Kertész
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auch in meiner Dankesrede für den Orden Pour le mérite gesagt habe. Wir sprechen beide von der «nicht wiedergutzumachenden Realität», aus der vielleicht doch noch einmal Wiedergutmachung erwachsen könnte, in meinen Worten durch Katharsis, Pilinszky zufolge durch die Dichtung, was das gleiche ist. – Pilinszkys tiefer Katholizismus wird von der offiziellen katholischen Kirche nicht akzeptiert, so wie sie es auch ablehnt, Auschwitz zur Kenntnis zu nehmen. Doch wer Auschwitz religiös erlebt – und wie wäre es anders zu erleben? –, kommt anscheinend auf die gleichen Gedanken. Ich muß an die Worte des Pfarrers denken, letztes Jahr in Stralsund: Gott hat keine Religion.
    Was heute als Demokratie betrieben wird, hat mit der
res publica
nicht viel gemein; ich würde es eher Demokratie des freien Marktes nennen. Bei etwas Selbstbeschränkung eine äußerst angenehme Lebensform, sie wird jedoch bald zu Ende sein, weil sie schamlos auf Zentralisierung, die Konzentration von Geld und Macht zuschreitet; dann wird es auch mit der Selbstbeschränkung und der Annehmlichkeit vorbei sein. Erwartet uns nicht ein diskreter Faschismus, mit viel biologistischer Garnierung, völligem Freiheitsentzug und einem relativen materiellen Wohlstand?
    21 . Juni 2001  Eine Unmenge Arbeit (Drehbuch). Unendliche, pausenlose Erschöpfung. Ich kann an überhaupt nichts anderes mehr denken. Ich kämpfe mit der Zeit, und dabei wird mein Kopf leer. Andererseits arbeite ich gern, und dieses Tempo … das eigentlich etwas für ganz junge Autoren ist … reißt mich mit.
    22 . Juni 2001  Merkwürdig: Hitler war eine ganz und gar unzeitgemäße Erscheinung (sein ganzes jämmerliches «Ideensystem» ist Produkt der Borniertheit des 19 . Jahrhunderts), aber was er hervorgebracht hat: Auschwitz, ist dennoch der getreueste Ausdruck des Zeitgemäßen.
    26 . Juni 2001  Gestern Stücke von Bartók unter Boulez’ Leitung im Kongreßzentrum. Im Verlauf des Konzerts wurde langsam ersichtlich, daß Bartók bis heute keine Wurzeln in der ungarischen Kultur geschlagen hat. Es wäre interessant, die Gründe dafür zu analysieren. Er nährt sich aus ungarischen Wurzeln und bleibt in Ungarn ein Fremder. Wahrhaftig lieben ihn nur die Juden. Eine Behauptung, für die es keine Beweise gibt: eine leichtfertige Behauptung. Ich will damit nur sagen, daß hier jeder heimatlos ist, der zeitgemäße Wahrheiten in einer zeitgemäßen Sprache anbietet. Dieses Land steckt so tief im Schlamassel, daß es sich nur noch von Lügen ein wenig Linderung für seine Leiden erhofft.
    1 . Juli 2001  Er habe «an den Sozialismus geglaubt» (lese ich in einem Memoirenband): Was für eine Formulierung ist das? Meines Erachtens ist sie nicht zu interpretieren, wenn wir nicht von geistiger Faulheit oder zwanghaftem Denken sprechen wollen. In dem Fall wird sie analysierbar. Die Frage ist allerdings, ob es sich lohnt, das in dieser Form zu analysieren; vielleicht im Fall bestimmter Völker, vor allem der Deutschen, wo zwanghaftes Denken so heimisch ist, und auch begründet.
    5 . Juli 2001  «Ich schreibe kein Tagebuch, wenn ich glücklich bin, diese schonungslose Analyse schadet dem Glück – aber heute habe ich nichts zu verlieren. Seit neun Stunden friere ich», Stendhal, aus dem Tagebuch über den Rußlandfeldzug von 1812 . – Solche Zeilen lese ich verstohlen, während ich am Drehbuch schreibe. Wie in der Kindheit, als ich unter der Bank «spickte».
    Ich beute mich selbst aus. Täglich zehn, zwölf Stunden am Computer, plus die Nächte, wenn ich wach werde. Alles für eine Verfilmung des
Romans eines Schicksallosen,
mit der ich letztlich gar nichts zu tun habe. Es wird so vieles danebengehen, so viele Kompromisse geben, mehr als ich vorhersehen kann, alles wird so falsch, so fremd werden, daß mir schon jetzt graut. Auf die endgültige Filmfassung habe ich etwa soviel Einfluß wie der kleinste Statist. Und dennoch, irgend etwas treibt mich, das zu machen, sinnloserweise, als schlecht bezahlter Drehbuch-Lohnarbeiter. Diese blinde Arbeitswut in mir, die sich auf alles stürzt wie ein Raubtier auf seine Beute, ohne angemessen auszuwählen. Andererseits ist das meine eigentümliche, unerklärliche Vitalität.
    6 . Juli 2001  Er habe «ein Vertrauensverhältnis zu ihr», sagte jemand. Den Ausdruck verstehe ich einfach nicht. Wie kann man zu jemand ein «Vertrauensverhältnis» haben? Mich hat noch niemals jemand verstanden. Alles, was ich geschaffen habe, habe ich nicht nur

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