Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
«trotz allem», sondern auch trotz allen geschaffen. Ich habe stets gearbeitet, als würde ich ein Attentat begehen, und Schuldgefühle wegen meiner Arbeit hat bei mir stets genau der Mensch erweckt, zu dem ich ein sogenanntes «Vertrauensverhältnis» hatte. Das ist auch heute nicht anders; obwohl ich angeblich ein «berühmter Mann» bin und mein Geld auf akzeptable Weise verdiene, kann ich nicht ohne das Bewußtsein arbeiten, daß ich «meinen menschlichen Verpflichtungen nicht genüge» – aber welche menschlichen Verpflichtungen sollte ich denn haben außer der, daß ich das zuwege bringe, was ich als meine eigene Pflicht empfinde: mit meinen Werken Dank zu sagen für die mir von Gott verliehenen Fähigkeiten. – Aber das sind Klagen eines schwachen Menschen. Ich fürchte, man liebt die sogenannten guten Menschen nur deshalb, weil es schwache Menschen sind. Was aber das Verstehen angeht: zwischen Mensch und Mensch gibt es so etwas nicht und kann es auch nicht geben. – Und die Liebe? Sie wäre möglich, aber es gibt sie nicht …
16 . Juli 2001 Lektüre während der Reise (nur noch auf Reisen komme ich zum Lesen, wie ein Börsenmakler oder Manager – diesmal Italien, der sog. Flaiano-Preis). Tatsache ist, daß nichts mich so interessiert wie Exilliteratur und Exilschriftsteller. Noch mehr, wenn es Osteuropäer, Repräsentanten einer untergehenden oder schon untergegangenen Kultur sind, und am meisten, wenn es Juden sind, die gar nichts repräsentieren. Diesmal handelt es sich um Miłosz; sein Briefdialog mit Venclova ist wahrhaft erschütternd. Die baltischen Staaten – noch schlimmer als Ungarn. Überall ergibt sich das gleiche: Einer geht und nimmt die heimische (baltische, polnische oder ungarische) Kultur mit sich, die unterdessen von den daheim Gebliebenen zerstört wird. Im allgemeinen pflegen sie die sogenannte Geschichte dafür verantwortlich zu machen, so als sei das eine Art göttlicher Gewalt, eine dem Menschen fremde, ihn verschlingende Macht; dabei wissen sie wohl, daß die Zeit abgelaufen ist. Und sie ist nicht deshalb abgelaufen, weil andere kamen, sie pflegt vielmehr deshalb abzulaufen, weil sie sie selbst nicht zu nutzen verstanden. Heute ist nichts mehr von der Kultur dieser östlichen Völker geblieben, an ihre Stelle ist ein erbärmlicher Nationalismus getreten. Wie eine Schutzreaktion des Organismus (sagen wir, hohes Fieber), die dann, ihre ursprüngliche Funktion vergessend, den Menschen tötet. Doch seltsam, daß sowohl aus den Worten Miłosz’ wie Venclovas, diesen beiden großartigen und authentischen osteuropäischen Geistern, hervorgeht, daß der Kulminationspunkt des ethischen Lebens (der Kultur bzw. des kulturellen Schaffens) dieser an den östlichen Rändern lebenden Völker das Verhältnis zum Judentum ist. Das Eingeständnis des Mordes und das Ermessen des Verlustes sind der Anfang eines jeden höher qualifizierten Lebens, auch der Nationen.
Am späten Nachmittag wurde Vencel geboren, ein Ereignis, das auf jeden Fall verdient, aufgezeichnet zu werden. Nachdem ich nie Vater war (und es nie bereut habe), bin ich plötzlich durch den Sohn meiner Frau Großvater geworden, Stiefgroßvater. Eine Erfahrung, die mich außerordentlich interessieren könnte, auf die ich aber aufgrund meines Alters verzichten muß. Wenn das Kind zehn Jahre alt sein wird, werde ich – wenn überhaupt noch – 82 Jahre alt sein. Welche Art von Beziehung kann sich zwischen einem Greis und einem kleinen Jungen entwickeln, wenn sie nicht existentiell aufeinander angewiesen sind (was wirkliche Nähe schüfe)? Ich werde ihm Spielsachen kaufen und mit ihm spazierengehen: Später werde ich, und noch später wird vielleicht auch er bedauern, daß wir uns nicht näher kennenlernen, nicht in einer Zeit miteinander unterhalten konnten, wenn ein junger Mensch die Erfahrungen eines fernen und auf märchenhafte Weise doch vertrauten alten Menschen wirklich braucht. Traurig.
20 . Juli 2001 Heute nennt man die ungarische Unkultiviertheit wieder
die
ungarische Kultur.
Arbeit am Drehbuch. Aus dem KZ über das KZ . Das enthält seine eigene Pikanterie.
21 . Juli 2001 Nach Jadwabne beschweren sich die Polen darüber, daß die polnischen Juden den Russen und den Deutschen vergeben konnten, nur den Polen nicht. – Ein solches Maß an Unverständnis der Frage gegenüber zu bekunden, läßt nicht auf großen psychologischen Scharfblick schließen.
22 . Juli 2001 Sonntagmorgen, halb acht. Seit fünf Stunden
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